Von Blitzen Trapper bis My Morning Jacket: Viele Folkrock- und Indiepop-Künstler werfen dieses Jahr bemerkenswerte Alben auf den Markt.
Auf «Holy Smokes Future Jokes» übertrifft sich Eric Earley selbst. Foto: Yep Roc Records/dpa
Auf «Holy Smokes Future Jokes» übertrifft sich Eric Earley selbst. Foto: Yep Roc Records/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Nein, einen Mangel an Indiepop- und Folkrock-Alben aus Amerika gibt es auch in Corona-Zeiten wahrlich nicht.

Talentierte Bands produzieren fleissig tolle Musik - ein Überblick zu empfehlenswerten Neuerscheinungen aus Spätsommer und Herbst.

BLITZEN TRAPPER - «Holy Smokes Future Jokes» (Yep Roc)

Zu den zuverlässigsten Lieferanten starker Alben zwischen Folkpop und Country-Rock gehört diese vor 20 Jahren in Portland/Oregon gegründete Band. Dass sich die Truppe um Singer-Songwriter Eric Earley tief in der Rockhistorie verwurzelt sieht, bewies sie vor einigen Jahren, als sie hochkompetent das legendäre Album «Harvest» (1972) von Neil Young in voller Schönheit aufführte. Mit der neuen Platte ist ihnen nun ihr wohl bestes Werk seit «Furr» (2008) gelungen. «Das Album besteht aus Aufzeichnungen meiner eigenen Lebensreise. Momentaufnahmen davon, wo ich zu verschiedenen Zeiten stand», wird Earley zitiert.

Prächtige Melodien, die diesmal auch Art-Rock und Glam-Pop der frühen 70er Jahre streifen, süffige Arrangements und ein Sänger, der sich selbst übertrifft - «Holy Smokes Future Jokes» ist ein (gar nicht so einfach!) tiefschürfendes Gute-Laune-Album. Mit «Requiem» hält es eine Folk-Perle bereit, die nur darauf wartet, am Lagerfeuer gesungen zu werden - garantiert aufmunternd in diesen schwierigen Wochen für die USA mit der Textzeile «Shine a light through the dark days». Der Titelsong und die Ballade «Sons And Unwed Mothers» sind pure Americana-Magie. Fazit: Das Album Nummer 10 von Blitzen Trapper ist ein bewegendes Indiepop-Kleinod.

DAWES - «Good Luck With Whatever» (Rounder/Universal)

Ebenso unverdrossen wie Blitzen Trapper bringt diese Band aus Los Angeles Klasse-Alben heraus, ohne bisher den ganz grossen Durchbruch geschafft zu haben. Das neue Werk wurde produziert vom sechsfachen Grammy-Gewinner Dave Cobb, aufgenommen im berühmten RCA Studio A in Nashville, und es enthält einige der strahlendsten Folkrock-Lieder dieses Jahres. Dawes-Frontmann Taylor Goldsmith wird ja gern als Wiedergänger von Jackson Browne bezeichnet - seine Stimme und sein Songwriting rechtfertigen diesen ehrenvollen Vergleich auch diesmal.

Die erste Rounder/Universal-Veröffentlichung folgt auf eine Reihe selbstveröffentlichter Alben seit «Nothing Is Wrong» (2011). Platten wie «Stories Don't End» (2013) oder «All Your Favourite Bands» (2015) schafften seither den Sprung auf höchste Billboard-Ränge der «Top Rock Alben» oder «Americana Folk Alben». Griffige Melodien und kernige Gitarrenriffs prägen auch «Good Luck With Whatever» - obwohl wie schon beim Vorgänger «Passwords» (2018) nichts wirklich Neues passiert. Dieses Quartett darf indes noch lange so weitermachen, ohne zu langweilen. Und gern noch öfter vor Jackson Browne oder den Eagles niederknien wie in «Didn't Fix Me» und «Me Especially».

DELTA SPIRIT - «What Is There» (New West/Pias)

Wie Dawes stammt diese fünfköpfige Band aus Kalifornien, und auch ihr merkt man die sonnigen Vibes der US-Westküste trotz manch düsterer Texte an. Nach drei künstlerisch lohnenden Solo-Ausflügen von Frontmann Matthew Logan Vasquez sind Delta Spirit nun mit ihrem ersten Album seit sechs Jahren erfolgreich zurück. «What Is There» wurde dem guten Freund und musikalischen Vorbild Richard Swift gewidmet, dessen Tod 2018 viele Indie-Musiker und Fans schockte.

«Into The Wide» (2014) bedeutete eine Zäsur: «Im Jahr 2015 verstanden wir uns so gut wie eine Familie», sagt Vasquez. «Das bedeutet, dass wir uns manchmal auch nicht allzu sehr mochten. (...) Als wir eine Pause machten und die Band aufhörte, bekamen wir die die Gelegenheit, die Freundschaften wieder zu entdecken.»

Und das hört man schon im Opener «The Pressure». Wuchtige Gitarren-Sounds sind weiterhin das Pfund, mit dem Delta Spirit wuchern - doch darüber hinaus klingt die Band wie befreit. «Es ist eine Platte für das Jetzt, anstatt in der Vergangenheit zu schwelgen. Es ist der nächste Schritt», sagt der Sänger. Das kann man hören. Highlight und erster Anspieltipp: die wunderbar streichersatte Tränenzieher-Ballade «Just The Same».

HELLO FOREVER - «Whatever It Is» (Rough Trade)

Und nochmal Kalifornien: Im Gegensatz zu den oft melancholisch oder auch mal düster grundierten Lieder von Dawes und Delta Spirit herrscht hier wirklich Sunshine-State-Stimmung. Wie eine junge, etwas spinnerte Ausgabe der Beach Boys oder von Crosby Stills & Nash klingt die Band mit dem so harmonieseligen Namen Hello Forever auf ihrem Debütalbum. Es entstand im kalifornischen Topanga - schon immer ein Kreativ-Paradies für Musiker der US-Hippie- und Gegenkultur.

Natürlich sind in den fantastischen Harmoniegesängen von «Whatever It Is» aber auch aktuelle Psych-Pop- und Neofolk-Bands wie Fleet Foxes, Darlingside oder Lord Huron nicht weit. Kopf von Hello Forever ist der Singer-Songwriter Samuel Joseph, der seine bunte Truppe als «Art-Pop-Kollektiv» definiert. «Wir hoffen, dass die Zuhörer es lieben und Freude, Frieden, Wahrheit oder irgendeine bedeutsame Erfahrung in dem Album finden.» Hört sich etwas esoterisch oder nach Kiffer-Philosophie an, passt aber. Denn ein schöner akustischer Trip in andere Zeiten und Sphären ist mit diesen Liedern allemal möglich.

Kurz und gut - weitere Indiepop/Folkrock-Tipps in aller Kürze:

DARLINGSIDE - «Fish Pond Fish» (More Doug/Thirty Tigers)

Bereits erwähnt und auch mit dem neuen Album wieder hörenswert: Die vierköpfige Softrock-Band Darlingside aus Boston pflegt mit dem dritten Album nach den gelungenen Werken «Birds Say» (2015) und «Extralife» (2018) abermals voll mitreissender Schwärmerei die feine, nicht allzu komplizierte Melodie. Der USA-weite Rundfunksender NPR lobt ihren «exquisit arrangierten, literarisch orientierten, barocken Folk-Pop», dem in schon in Songtiteln wie «Ocean Bed», «Green + Evergreen» oder «Mountain + Sea» eine grosse Naturnähe zu eigen ist.

DRIVE-BY TRUCKERS - «The New OK» (ATO/Pias)

Diese Band aus Athens/Georgia um Patterson Hood kommt zwar vom rauen Country-Rock, hat aber mit rechten Rednecks nichts zu tun. «The New OK» ist ein Anti-Trump-Album, das kurz vor der US-Wahl hastig digital veröffentlicht wurde (physisch verfügbar ab 18. Dezember). Die neun Lieder sind provokant-kämpferisch (etwa «Perilous Night» oder das gegen den Ku-Klux-Klan gerichtete Ramones-Cover «The KKK Took My Baby Away»), sie knüpfen damit unmittelbar an das Album «The Unraveling» vom Januar an. Verdienstvoll - und letztlich von Erfolg gekrönt.

INTO IT. OVER IT - «Figure» (Big Scary Monsters)

Eine sympathische Nischenszene ist der Emo-Rock - viel Gefühl, melancholischer Gesang, schüchterne Shoegaze-Attitüde und Wall-of-Sound-Gitarren prägen diese Musik. Das gilt auch für die neue Platte «Figure» von Evan Thomas Weiss aus Chicago alias Into It. Over It - American Football oder Owen lassen grüssen. Weiss sagt: «Dieses Album handelt davon, mit den schlechten Entscheidungen, die ich in meinem Leben bisher getroffen habe, klarzukommen.» Zum Glück umgeht er dennoch konsequent Larmoyanz und Kitsch. Sehr schönes Werk.

THE MOUNTAIN GOATS - «Getting Into Knives» (Merge/Cargo)

Ungeheuer fleissig auf hohem Niveau musizieren seit 30 Jahren John Darnielle und seine Band. «Getting Into Knives» ist das fünfte Werk der «Schneeziegen» seit 2015. Und auch wenn es die Klasse der Konzeptalben «Goths» (2017) und «In League With Dragons» (2019) nicht ganz erreicht, lohnt das Zuhören unbedingt. Dies ist eine tröstliche Lockdown-Platte, mit der man «die Tür für einen neuen Weg öffnen» könne, sagt Darnielle. «Lieder, die trotz der Unvermeidbarkeit des Verlustes leuchten», meint das Label Merge - und trifft es damit.

MY MORNING JACKET - «The Waterfall II» (ATO/Pias)

Mit dem Nachfolger von «The Waterfall» erfüllt die famose US-Band My Morning Jacket nach fünf Jahren Fan-Träume. Während der Aufnahmen 2015 in Kalifornien entstanden so viele starke Songs zwischen Folkrock, Country, Funk-Jazz und Soul, dass Frontmann Jim James erwog, ein Triple herauszubringen. «Dies ist kein B-Seiten-Album», sagt der Sänger nun über «The Waterfall II». «Es ist nur die zweite Hälfte eines langen Schnappschusses aus meinem Leben als Autor bis 2014.» Keine Reste-Rampe also, sondern allerfeinster MMJ-Stoff.

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