«Stadt-Land-Graben gehört ins Mittelalter – das braucht es!»
Das Wichtigste in Kürze
- Den Konflikt Stadt gegen Land gebe es schon längst, schreibt Meret Schneider.
- Mit unserer Staatsform, Verfassung und der Demokratie gebe es einen gemeinsamen Nenner.
- Schneider: «Die Hellebarden lassen wir dort, wo sie hingehören – im Mittelalter.»
Kurz nach der Ablehnung der Biodiversitätsinitiative schossen sie wieder wie Pilze aus dem Boden: Analysen, Gegenwartsdiagnosen und das permanent darunter gelegte Lacrimosa der Spaltung der Gesellschaft.
Selbstverständlich sind Rekapitulationen und selbstkritische Reflexion der Kampagnen und einer gesellschaftlichen Stimmung nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Und für einen Lernprozess konstituierend.
Aber: Wo die Analyse in den lieb gewonnenen Fluss der immer gleichen Spaltungsnarrative mündet, lohnt es sich, kurz innezuhalten.
Stadt gegen Land. «Die da oben» gegen «die da unten». Die Gräben, die aufgezogen werden und medial als tiefer und unüberwindbarer beschrieben werden denn je, die damit einhergehende abnehmende Diskursbereitschaft und der fehlende Wille zur Verständigung sind aber nicht rein deskriptive Konstrukte, die einen aktuellen Zustand beschreiben, sondern auch selbsterfüllende Prophezeiungen. Und Imperative an die Lesenden.
Wird die Gesellschaft als eine gespaltene in Stadt- und Landbevölkerung beschrieben, wobei beide gegensätzliche Haltungen vertreten, fühlt sich auch der oder die Lesende gedrängt, sich dem einen oder anderen Lager anzuschliessen.
Identifizierst du dich als urban, bist du dafür. Kommst du eher vom Land, bist du dagegen. Neben dieser aufoktroyierten Haltung nimmst du bitte auch sogleich die rhetorische Hellebarde zur Hand, um diese gegen die bösen Städter oder die hinterwäldlerische Landbevölkerung zu verteidigen.
Es ist kein Fussballspiel
Dieses Narrativ verkennt komplett, dass unsere Gesellschaft kein Fussballspiel ist (Papa, sind wir für die Roten oder die Weissen?), sondern wesentlich komplexer und, ja, wesentlich weniger gespalten als in früheren Zeiten.
Die Behauptungsprosa der gespaltenen Gesellschaft oder einer Zunahme der Spaltung trifft nämlich auf erstaunlich wenig Evidenz.
Im Zuge der Organisation des Grünen Ustertages wird mir das immer wieder vor Augen geführt: 1830 strömten gut 10'000 Menschen auf den Ustermer Zimikerhügel, um gegen die Bevormundung der Landbevölkerung durch die Städter (kein Gendern notwendig) zu demonstrieren – ein ziemlich vertrautes Narrativ.
Diese Konflikte gibt es schon viel länger
Stadt gegen Land, Oberschicht gegen Unterschicht: All diese Konflikte gibt es schon sehr viel länger und sie wurden in der Vergangenheit wesentlich blutiger ausgefochten als heute.
Tatsächlich können wir uns heute auf einen so breiten gemeinsamen Nenner besinnen wie historisch selten zuvor: auf die Staatsform, die Verfassung, die Demokratie.
Natürlich immer mit einigen Ausnahmen, aber diese kann man trotz medialer Überrepräsentation als wenig relevant abtun.
Auch verkennt die Stadt-Land-Graben-Erzählung komplett, dass der grösste Teil der Schweizer Bevölkerung in der Agglomeration lebt und gar nicht zugeordnet werden kann. Diese Dichotomie ist ein Relikt aus der Vergangenheit, das wir im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts definitiv aufgeben sollten.
Die Frage ist, woher kommt das Gefühl einer gesellschaftlichen Spaltung und wenig Verständigung? Ein Gefühl, das auch ich, trotz des Wissens um die fehlende Evidenz dafür, immer wieder spüre.
Hätte ich eine klare Antwort auf diese Frage, würde ich sie in Feuilleton-Artikeln an die grosse Glocke hängen.
Populistinnen und Populisten profitieren
Doch ich habe nur eine persönliche Einschätzung: Zum einen ist es die mediale Berichterstattung, die Gefallen am Spaltungsnarrativ gefunden hat und damit Wasser auf die Mühlen der Untergangspropheten giesst.
Zum anderen ist es die Tatsache, dass von einem Gefühl des fehlenden Zusammenhalts und der Spaltung in einer tatsächlichen Situation der multiplen Herausforderungen primär Populistinnen und Populisten profitieren.
In der Angst vor der Zukunft, vor den «Anderen» und in der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, wie sie nie war, suchen Menschen einfache Antworten und Erklärungen. Und Personen, die versprechen, dass möglichst alles bleibt, wie es ist, und man sich wehrt – gegen die Stadt, die da Oben, wie im Mittelalter eben.
Das Problem gibt es auch in Deutschland
Dass dies politisch instrumentalisiert wird, sehen wir nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland. Und generell international, wo Populisten auf dem Vormarsch sind und Klötzchen um Klötzchen aus dem Jenga-Turm der Demokratie ziehen und damit den Zusammenbruch des Turms nicht direkt anstreben, aber doch in Kauf nehmen.
Interessanterweise widerspiegeln aber die real erfahrbare Welt und das Zusammenleben in Gemeinden, Städten und Dörfern oft in keinster Weise dieses Spaltungsnarrativ – im Gegenteil.
Besonders erfahren habe ich dies im Rahmen der Arbeit an lokal+fair. Dort war ich mit Gemeinden, Bäuerinnen und Bauern und Gewerbe stets in Kontakt und im Gespräch, um lokal+fair-Gemeinden zu verstärkter Unterstützung der lokalen Produzierenden und der Integration lokaler Produkte ins Beschaffungssystem zu motivieren.
Käseplatte statt Crevettencocktail
Wenn sonst gern beschrieben wird, dass «die Bauern» sich gegen Nachhaltigkeitsstrategien der Städte wehren und ein Konflikt zwischen Umwelt- und Bauernanliegen bewirtschaftet wird, so erfahren die Bäuerinnen und Bauern hier ganz direkt, wie sie von einer Nachhaltigkeitsstrategie auch profitieren.
Nämlich, indem die Gemeinden in Verpflegungseinrichtungen und an Veranstaltungen aus Nachhaltigkeitsgründen auf lokale Produkte setzen: Most statt Softdrinks, Käseplatte statt Crevettencocktail.
Mit denen kann man ja reden
Und so sitzen plötzlich grüne Umweltpolitikerinnen mit Bauern am Tisch oder stehen auf dem Feld und diskutieren über günstige Marktplätze, Apfellieferungen und Apérocaterings und beide machen die Erfahrung: Mit denen kann man reden, mit denen kann man zusammenarbeiten, da bleiben wir im Gespräch.
Genau diese Erfahrungen sind es, die mich motivieren, weiter daran zu arbeiten, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen und von diesen Projekten und Erfahrungen zu berichten.
Denn: Für eine gesellschaftliche Kohäsion und einen zuversichtlichen Blick in die Zukunft brauchen wir Schaufeln, um Gräben zuzuschütten. Die Hellebarden lassen wir dort, wo sie hingehören – im Mittelalter.
Zur Person: Meret Schneider (31) war bis vor Kurzem Mitglied des Schweizer Nationalrats (2019 bis 2023). Nach dem Rücktritt von Bastien Girod rückt sie 2024 wieder in den Nationalrat nach. Sie arbeitet als Projektleiterin beim Kampagnenforum. Weiter ist sie Vorstandsmitglied der Grünen Partei Uster ZH.