Die Geschichte der Neutralität begann vor 2500 Jahren. Eine Analyse von Historiker Pascal Lottaz.
Schwarz-weiss Bild zur Neutralität
Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert. Karikatur über die 'Liga der Bewaffneten Neutralität.’ Die neutralen Schweden, Dänemark, die Niederlande, Russland und Amerika knebeln das Kriegführende England, welches die Rechte der Neutralen missachtete - wikimedia
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Das Wichtigste in Kürze

  • Historiker Pascal Lottaz schreibt die Kolumne «Die Schweiz, ihre Neutralität und die Welt»
  • In diesem Artikel spricht er über die Geschichte der Neutralität

In der Schweiz dürfen wir stolz sein auf mindestens 200 Jahre rechtlich verbriefter Neutralität und keinem einzigen Krieg mit einem anderen Staat seither. In der Tat war die Schweiz das erste Land, welches je seine «immerwährende» Neutralität (damals ein Novum) beim Wienerkongress 1815 in einem multilateralen Staatsvertrag völkerrechtlich garantiert bekommen hat.

Die Idee der Neutralität geht aber weit über die helvetischen Landesgrenzen hinaus. Die ältesten überlieferten Dokumente westlicher Geschichtsschreibung, die von ihr berichten, wurden vom griechischen Historiker Thukydides verfasst. In seiner Erzählung von den Peloponnesischen Kriegen berichtet er von den wackeren Bewohnern der Insel Melos, welche versuchten mit allen Mitteln der Vernunft und der Wehrkraft ihr Recht auf Neutralität im Konflikt zwischen Athen und Sparta zu verteidigen. Anders als die Schweiz hatte Melos aber leider weniger Glück; Athen anerkannte den Wert der melanesischen Neutralität nicht. 416 v.Chr. überfielen die Athener die Insel, töteten alle wehrfähigen Männer und versklavten ihre Frauen.

Im ersten Jahrtausend nach Christus war es eher still um die Neutralität in Europa. Im Rechtsverständnis christlicher Theologen und ihrer Herrscher war sie kein Begriff. Es grassierte die Idee des «gerechten Krieges»—dass ein von Gott gewollter Krieg (wie zum Beispiel die Kreuzzüge) immer notwendigerweise gut sei und eine neutrale Haltung heissen würde die böse Seite der Heiden zu unterstützen.

Allerdings; obwohl im Mittelalter die Neutralität als Theorie keine grossen Verfechter hatte, so war sie doch Praxis unter Staaten. Im Katalanischen «Consolato del Mare» findet sich bereits im 13. Jahrhundert ein Regelwerk, welches die Rechte von neutralem Handel auf der offenen See beschreibt. Über die gleiche Zeit gibt es auch bilaterale Staatsverträge von Europäischen Staaten, die sich gegenseitig versprachen im Falle eines Krieges mit Dritten neutral zu bleiben. Zwei Jahrhunderte später finden sich Aufzeichnungen über europäische Kleinstaaten, wie das Belgische Liège, die sich generell für neutral in Konflikten der Nachbarn erklären.

Die wahre Stunde der Neutralität schlug aber im 18. und 19. Jahrhundert als Teil der europäischen Grossmachtpolitik, in der Krieg nicht mehr «heilig» war, sondern ein Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen. Da konnte es plötzlich auch für grosse Staaten von Nutzen sein, ihre Neutralität zu proklamieren, wenn andere Europäer sich die Köpfe einschlugen. Speziell Grossbritannien, aber auch Frankreich, Spanien, Russland oder Preussen erklärten immer mal wieder Ihre situationelle Neutralität.

Sogar der Schweizer Lieblingsbegriff der «Bewaffneten Neutralität» geht auf diese Zeit zurück, wobei er hauptsächlich von der Russischen Zarin, Katarina der Grossen, geprägt wurde. Diese wollte 1780 das Recht ihres neutralen Russlands gegenüber den Kriegstreibenden Briten und Franzosen durchsetzen, die immer wieder neutrale Schiffe abfingen oder zerstörten um Handel mit Ihrem jeweiligen Feind zu unterbinden. Zur Verteidigung Ihrer Handelsflotte gründete sie flugs eine «Liga der Bewaffneten Neutralität», in der sie zusammen mit nordischen Staaten drohte Attacken auf Ihre Handelsschiffe militärisch zu verteidigen.

Die «immerwährende Neutralität» der Schweiz fällt somit in die Blütezeit der Neutralitätspolitik in Europa und Nordamerika (auch die USA wahren 150 Jahre lang neutral). Der globale Neutralitätstrend fand im Neutralitätsrecht, das 1899 und 1907 in den beiden Haager Konferenzen aus dem Boden gestampft wurde, seine Krönung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es wieder stiller um die Neutralität in Europa. Obwohl die Schweiz die Österreichische Neutralität inspirierte (ab 1955), hat sich die globale Konfliktdynamik während des Kalten Krieges doch sehr verschoben und klassische Neutralität rückte in den Hintergrund, während die neuen «Blockfreien Staaten» ihre Unabhängigkeit von beiden Seiten des ideologischen Konfliktes proklamierten.

Alles in allem gründet die Schweizer Neutralität auf einer langen europäischen Tradition, die sowohl mit der Logik von Konflikten als auch mit internationalem Recht eng verwoben ist.

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