Daniel Koch: «Unser Krankenkassen-System ist krank!»
Die Schweiz habe eines der weltweit besten medizinischen Versorgungssysteme. Das Krankenkassen- und Prämiensystem aber sei ein Problem, findet Daniel Koch.

Das Wichtigste in Kürze
- Daniel Koch war zwischen 2008 und 2020 BAG-Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten.
- Auf Nau.ch schreibt Koch regelmässig Kolumnen, diesmal über unser Gesundheitssystem.
- Dabei nimmt Koch unser Krankenkassensystem unter die Lupe.
Die Nächte werden frostiger. Der Nebel hüllt die Landschaft in ein einheitliches Grau. Die Tage werden kürzer – und am liebsten verkriecht man sich in die warme Stube. Der Herbst übernimmt das Zepter.
Und wie jedes Jahr gehört zum schweizerischen Herbst die unerfreuliche Nachricht von den Krankenkassen, welche die nächste Prämienerhöhung ankündigt.
Das gehört in der Schweiz zum Jahresablauf. So wie ein Naturereignis. Unabdingbar und unveränderlich. Von Jahr zu Jahr ändert sich eigentlich nur die Höhe der Prämienaufschläge. Und zwar genauso unvorhersehbar und undurchsichtig wie der Nebel im Herbst.
Aber: Beim Wetter erklären uns Herr Bucheli und sein Team im SRF jeden Abend, wie das jeweilige Wetter entsteht. Und wann und wie der Nebel sich bildet.
Schuld sei immer das steigende Alter
Selbstverständlich erklären uns seit Jahren auch die Krankenkassen und das BAG, warum die Prämien steigen. Der Hauptgrund sei das steigende Alter der Schweizer Bevölkerung.
Überhaupt ist der stetige Anstieg der Lebenserwartung mittlerweile fast an allem schuld. Am fehlenden Geld bei der AHV, am Fachkräftemangel – und auch an der Wohnungsnot.

Kein Interesse an stabilen oder sinkenden Krankenkassenprämien
Aber stimmt das denn wirklich? In den zwanzig Jahren zwischen 2003 und 2023 ist die Lebenserwartung von 80,5 auf 84 Jahre angestiegen. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der über 65-Jährigen in der Schweizerbevölkerung von 25,3 Prozent auf 31,8 Prozent erhöht.
In diesen zwanzig Jahren haben sich die Krankenkassenprämien aber mehr als verdoppelt.
Den wahnsinnigen Prämienanstieg damit zu erklären, greift definitiv zu kurz. Das wissen natürlich auch die Krankenkassen und Versicherer. Denn sie haben detaillierte Daten und spezialisierte Statistiker.
Es ist offensichtlich, dass auch sie an den konstant steigenden Kosten im Gesundheitssystem mitverdienen – und deshalb kein Interesse an stabilen oder sogar sinkenden Krankenkassenprämien haben.
Ganz im Gegenteil! Je mehr Kontrolle sie im System haben, umso grösser ist ihr Einfluss, einen gesicherten Prämienanstieg zu garantieren.
Geld sparen mit häufigem Kassenwechsel?
Auch deshalb steigen die administrativen Aufgaben bei den Spitälern und Arztpraxen konstant an. Bürokratie aufgebrummt durch die Krankenkassen. Bezahlt werden auch diese Kosten mit den steigenden Prämien, genauso wie die Werbespots und allgegenwärtigen Plakate.
Das brauche es, um den Wettbewerb unter den Kassen zu fördern. Denn mit einem häufigen Kassenwechsel könne man Geld sparen, sagen einzelne Gesundheitsökonomen.
Für einzelne Fälle mag das sogar stimmen. Die Gesamtkosten werden dadurch aber nicht gesenkt.
Krankes Krankenkassen- und Prämiensystem
Es kommt mir so vor, wie wenn beim Stau auf der Autobahn empfohlen würde, häufig die Spur zu wechseln, um schneller vorwärtszukommen. Das funktioniert für einzelne. Der Verkehr wird dadurch aber weder flüssiger noch schneller.
Beim Verkehr wird empfohlen, auf die Bahn umzusteigen. Vielleicht bräuchte es auch bei den Gesundheitskosten ein Systemwechsel? Die «Pflästerlipolitik» – wie neue Tarifsysteme oder auch ein elektronisches Gesundheitsdossier – werden die Kosten nicht senken.
Die Schweiz hat mit Sicherheit eines der weltweit besten medizinischen Versorgungssysteme. Aber das Krankenkassen- und Prämiensystem ist krank.
Als Vorbild für eine Sanierung könnte das Unfallversicherungsgesetz und das System der Suva dienen. Das funktioniert effizienter und kostengünstiger. Und mit viel tieferen Prämien, obwohl die gleichen Spitäler und Ärzte behandeln.
Enorm privilegiert in der Schweiz
Aber es ist einfacher, das zunehmende Alter der Bevölkerung in den Vordergrund zu rücken, als Reformen im Krankenkassensystem anzugehen?
Mehr Geld im Gesundheitssystem bedeutet auch nicht automatisch eine höhere Lebenserwartung. Das sieht man an der Entwicklung in den USA. Jenem Land, welches pro Einwohner für die Gesundheit am meisten Geld ausgibt.
Und trotz allem sind wir in der Schweiz enorm privilegiert. Wir müssen dankbar sein, dass wir zu den Ländern mit der höchsten Lebenserwartung gehören.
Covid-Pandemie hat nur Delle hinterlassen
Seit der spanischen Grippe 1918 haben wir nie mehr einen grösseren Einbruch erlebt. Auch die Covid-19-Pandemie hat nur eine kleine Delle hinterlassen.
Andere Länder und Regionen hatten weniger Glück: Kriege, Hungersnöte, Diktaturen und die Armut haben millionenfach Menschen getötet. Das zeigt sich auch in den Grafiken zur Lebenserwartung.
Tod wird hinausgezögert
Dank des Internets und «Our World in Data» stehen uns diese Grafiken frei zur Verfügung.

Sie beschreiben zu Recht die weltweite Entwicklung mit folgenden Worten: «Im Jahr 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Neugeborenen 32 Jahre. Bis 2021 hat sich diese Zahl auf 71 Jahre mehr als verdoppelt. Der starke Rückgang der Kindersterblichkeit hat eine wichtige Rolle bei der Erhöhung der Lebenserwartung gespielt.»

Aber die Lebenserwartung sei in allen Altersstufen gestiegen. Säuglinge, Kinder, Erwachsene und ältere Menschen hätten eine geringere Wahrscheinlichkeit zu sterben als in der Vergangenheit. Und der Tod werde hinausgezögert. Weiter heisst es: «Diese bemerkenswerte Verschiebung resultiert aus Fortschritten in der Medizin, der öffentlichen Gesundheit und dem Lebensstandard.»
Die Unterschiede zwischen den ärmsten und reichsten Ländern ist jedoch enorm. Nicht alle Weltregionen haben in gleichem Masse von der guten Entwicklung profitiert.
Die Schweiz steht an der Spitze dieser Statistik. Müsste sie sich dadurch nicht noch viel mehr verpflichtet fühlen, sich für eine bessere Gesundheit aller Menschen einzusetzen?








