Das Schweizer Sexualstrafrecht wird revidiert. Aber noch immer scheinen nicht alle verstanden zu haben, was eine Vergewaltigung wirklich ist. Ein Gastbeitrag.
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Nein heisst Nein – das Schweizer Sexualstrafrecht wird revidiert. (Symbolbild) - Pexels
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die Revision des Sexualstrafrechts macht ihren Weg durch das Parlament.
  • Jessica King (Alliance F) schreibt im Gastbeitrag, was eine Vergewaltigung zur Folge hat.

Nun also doch. Nach langem Hin und Her schlägt die Rechtskommission des Ständerats ein «Nein heisst Nein»-Prinzip im Sexualstrafrecht vor. Das heisst: Wenn sich eine Tatperson über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt, gilt es als Vergewaltigung.

Das Opfer muss also Nein sagen, und zwar entweder verbal («Hör auf!») oder nonverbal (Wegstossen, Kopf schütteln).

«Nein heisst Nein» ist deutlich besser als das aktuelle, komplett veraltete Sexualstrafrecht. (Im Moment genügt es nämlich nicht, «Nein» zu sagen – die Betroffenen müssen sich dazu noch wehren.) Aber die vorgeschlagene Lösung ist noch nicht optimal.

Im Nachhinein erzählen Überlebende sexualisierter Gewalt oft: «Ich war wie benommen.» Oder: «Ich lag einfach da, ich konnte nicht schreien.» Angesichts der grossen Gefahr und der extremen Angst verfallen Opfer bei einer Vergewaltigung oft in eine Schockstarre, können sich weder bewegen noch etwas sagen.

Was ist «Freezing»?

Dieses «Freezing» ist ein instinktiver Prozess, der auch in der Tierwelt vorkommt: Das Gehirn wägt innert Millisekunden ab, wie gefährlich die Situation ist, und entscheidet sich dann für eine Reaktion, die das Überleben möglichst sichern soll. Weil die Tatperson in den meisten Fällen körperlich überlegen ist, erstarren auch so viele Betroffene; ohne, dass sie sich rational dafür entschieden hätten. Eine Frau kann einen schwarzen Gürtel im Karate haben und trotzdem freezen.

Besonders eindrücklich zeigt dies eine viel beachtete Studie, die in der Notfallklinik für vergewaltigte Frauen in Stockholm durchgeführt wurde. 298 Frauen wurden befragt, inwiefern sie während des Übergriffs erstarrt seien.

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«Freezing» ist eine natürliche Reaktion des Körpers aus dem Tierreich. (Symbolbild) - Pexels

Zum Fragebogen gehörten folgende Statements: «Ich konnte mich unmöglich bewegen, auch wenn ich weder festgehalten noch festgebunden wurde.» «Ich fühlte mich, als ob ich sterben würde.» «Ich fühlte mich während des Übergriffs taub und losgelöst von mir selbst.»

Die Resultate: Sieben von zehn Frauen berichten von signifikantem Freezing. Je heftiger der Übergriff und je grösser die Angst, desto eher erstarrten die Frauen. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie ihren Vergewaltiger kannten oder nicht.

In einem solchen eingefrorenen Zustand kann es unmöglich sein, «Nein» zu sagen, den Kopf zu schütteln oder sonstwie den Willen kundzutun. Fieserweise leiden die Opfer, die erstarren, gleich doppelt. Einerseits verunmöglicht ihnen das Freezing in vielen Ländern – auch in der Schweiz – die Anklage des Täters.

PTSD nach einer Vergewaltigung

Andererseits erkranken sie nach der Vergewaltigung signifikant häufiger an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer schweren Depression. Unter anderem, weil sie sich für ihre natürliche Reaktion schämen und das Trauma so intensiviert wird, schreiben die Autorinnen und Autoren der schwedischen Studie.

Für mich ist klar: Es braucht ein Sexualstrafrecht, das sich am Konsens orientiert. Sex ohne erkennbare Zustimmung soll im Gesetz als Vergewaltigung gelten – die sogenannte «Ja heisst Ja»-Lösung. Nur so wird dem Erleben der Betroffenen im Gesetz genügend Rechnung getragen.

Auslandschweizer
Das Bundeshaus in Bern. - Keystone

Und seien wir ehrlich: Wie schwierig ist es, vor dem Sex im Zweifelsfall zu fragen: «Möchtest du das?» Wer vor und während eines sexuellen Aktes nicht fähig ist, offen mit der anderen Person zu kommunizieren und bei Unsicherheit ihr Befinden abzuchecken, sollte auch keinen Sex haben.

Im Sommer wird sich der Ständerat erstmals mit der Vorlage befassen, der Bundesrat wird vorher Stellung nehmen. Die grössten Argumente gegen eine «Ja heisst Ja»-Lösung sind die Umkehr der Beweislast und die Angst vor Falschaussagen. Die zerpflücke ich gerne in der nächsten Kolumne.

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