Was, wenn Terroristen ein Flugzeug kapern und die Passagiere zum Teil einer Waffe machen, mit der noch viel mehr Leben ausgelöscht werden? Darf das Passagierflugzeug dann abgeschossen werden? Seit dem 1. Januar 2018 heisst die Antwort in der Schweiz: Ja.
Seit dem 11. September 2001, als vier Passagierflugzeuge  von Terroristen gekapert und zu den erschütterndsten Anschlägen unserer Zeit missbraucht worden sind, fragt sich der Rechtsstaat: Hätte man die Flugzeuge abschiessen dürfen? Sogar müssen? Hunderte opfern, um Tausende zu retten?
Seit dem 11. September 2001, als vier Passagierflugzeuge von Terroristen gekapert und zu den erschütterndsten Anschlägen unserer Zeit missbraucht worden sind, fragt sich der Rechtsstaat: Hätte man die Flugzeuge abschiessen dürfen? Sogar müssen? Hunderte opfern, um Tausende zu retten? - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Seit dem 1. Januar 2018 hat die Luftwaffe ein neues Gesetz.
  • Wird ein (Passagier-) Flugzeug von Passagieren gekapert, darf die Armee es abschiessen, um grösseres Übel zu vermeiden.
  • In Deutschland ist der Wortlaut des Gesetzes genau umgekehrt.

Ein Kampfpilot steht wegen Mord vor Gericht. Er hat ein Passagierflugzeug mit 164 Menschen abgeschossen – und damit das Leben von 70'000 anderen gerettet. Denn an Bord der abgeschossenen Maschine befanden sich Terroristen, die das Flugzeug zur Waffe machen und in ein Fussballstadion krachen wollten.

Neues Gesetz

Ist der Pilot schuldig? Diese Frage stellt Autor Ferdinand von Schirach dem Publikum des Theaterstücks «Terror – Ihr Urteil». Seit dem 1. Januar 2018 hat die Schweizer Armee eine offizielle Antwort. Sie lautet: «Nein.»

Anfang Jahr trat ein neues Militärgesetz in Kraft. Es handelt sich um eine Abschussermächtigung: Die Schweizer Armee darf ein Passagierflugzeug mit Unschuldigen abschiessen, wenn dadurch der Tod von noch mehr Menschen verhindert werden kann.

Verstoss gegen Grundrecht

Diesem Gesetz gegenüber steht allerdings die Bundesverfassung, die allen Menschen das Grundrecht auf Leben zusichert. Artikel 7 sagt: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.» Artikel 10 garantiert «Jeder Mensch hat das Recht auf Leben.» Damit scheint vorsätzliche Tötung, egal vor welchem Hintergrund, ausgeschlossen.

Weil das Bundesgericht in der Schweiz ein Gesetz nicht auf seine Verfassungsrechtlichkeit prüfen kann, trat Artikel 92a in Kraft: Der Abschussbefehl darf erteilt werden, obwohl er ein Grundrecht verletzt. Kommt es tatsächlich zur Ausführung, kann mittels Beschwerde geprüft werden, ob die Handlung der Verfassung standhält.

Ethisches Dilemma

Gerade Militärs allerdings müssen Gesetze gemäss Amtspflicht einhalten. Kaum ein Gericht wird also den Abschussbefehl verurteilen. Damit ist die Situation klar – oder?

Die «Basler Zeitung» hat diese Frage Peter Bruns, Oberst und Chef der Operationszentrale der Luftwaffe, gestellt. Seine Antwort belegt das ethische Dilemma: «Niemand wünscht sich, einen so schweren Entscheid treffen zu müssen. Wir hoffen, dass unsere hohe Einsatzbereitschaft verhindert, dass ein Anschlag von Terroristen überhaupt als für sie zielführend erachtet wird.»

Gegenteilige Regelung in Deutschland

In Deutschland gelangte das Bundesverfassungsgericht 2006 übrigens zu einem gegenteiligen Urteil: In Friedenszeiten darf in Deutschland unter keinen Umständen der Befehl zum Abschuss gegeben werden.

Terror – Ihr Urteil (Lars Kraume, DE 2016. Nach einem Theaterstück von Ferdinand von Schirach)
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