So frech und sinnlich wie Simmen schrieb keine

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Bern,

Andrea Simmen musste sich in einem von Männern dominierten Literaturbetrieb durchsetzen. Doch sie war nicht die einzige – aber eine der frechsten.

Andrea Simmen
Für ihr erstes Werk brauchte Autorin Andrea Simmen sieben Jahre, um es fertigzustellen. (Archivbild 1998) - keystone

Junge Schweizer Literatinnen der 1990er-Jahre nahmen das 21. Jahrhundert vorweg. Nun wird mit Andrea Simmens Debüt «Ich bin ein Opfer des Doppelpunkts» ein Schlüsselwerk dieser Generation neu aufgelegt, das den Humor der Autorin über ihren frühen Tod hinaus aufblitzen lässt.

Hemdsärmlig sass sie am Tisch in ihrer Bauernküche, rauchte eine Zigarette nach der anderen und sagte im Interview, sie habe «mit Feminismus wenig am Hut». Sie trug Männerhüte und bekannte freimütig: «Ich habe Männer gern.»

Das Verhältnis zu Männern ändern

Klar sei sie für eine weltweite Emanzipation, aber man müsse die Verhältnisse zusammen mit den Männern verändern. Das war 1993, auf dem Hof im Weiler Brütten bei Winterthur, wo Andrea Simmen mit ihrer Tochter, ihrem damaligen Geliebten, Hunden, Geissen und einer Sammlung von Spielzeugtraktoren lebte.

Gerade war ihr zweiter Erzählband «Landschaft mit Schäfer und anderen Reizen» erschienen, für den sie nach dem Erfolg des Erstlings «Ich bin ein Opfer des Doppelpunkts» ein Werkstipendium der Stadt Zürich bekommen hatte. Wohl auch aus diesem Grund sind die beiden Bücher verschieden.

Ein Werk von über sieben Jahren

Die zwanzig kurzen Texte im ersten Buch hatte Simmen über sieben Jahre geschrieben – neben Temporär-Jobs als Köchin, Gärtnerin und Dekorateurin. Entsprechend unterschiedlich sind sie, dabei aber allesamt eckig, kantig und tragikomisch.

Im Gegensatz dazu entstand das finanzierte zweite Buch in einem Zug. Die drei längeren Geschichten darin sind mit einem stimmigen Bogen verbunden.

Literaturbetrieb von Männern dominiert

Einen Bogen kann man auch von der ersten zur aktuell dritten Generation von Schweizer Schriftstellerinnen schlagen. Natürlich gab es Autorinnen im von Männern dominierten hiesigen Literaturbetrieb schon immer.

Aber es waren einzelne, und sie hatten einen schweren Stand. Viele von ihnen sind inzwischen vergessen.

Ausnahmen sind Johanna Spyri – mit «Heidi» eine frühe Bestsellerin – die Dichterin Erika Burkart oder die Ordensfrau Silja Walter.

Mit neuem Selbstbewusstsein ans Schreiben

Zur ersten Generation schreibender Frauen, die sich ihren Platz im Literaturbetrieb dann gemeinsam erkämpften, gehörten im Zuge der 68er-Bewegung etwa Helen Meier, Erica Pedretti, Hanna Johansen und etwas später die kürzlich verstorbene Gertrud Leutenegger.

Andrea Simmen zählte bereits zur zweiten Autorinnengeneration, die Anfang der 1990er-Jahre in Erscheinung trat. Diese Frauen konnten schon mit einer gewissen Selbstverständlichkeit schreiben, schöpften selbstbewusst aus ihrem persönlichen Erfahrungsschatz und etablierten die weibliche Perspektive als neue Weltsicht in der Literatur.

Gesellschaftskritischer Ansatz

Viele von ihnen waren von den Jugendbewegungen der 1980er-Jahre geprägt und pflegten einen gesellschaftskritischen Ansatz. Sprachlich schlug sich dies oft in einem schnörkellosen, direkten, zuweilen schnoddrigen Ton nieder.

Interessanterweise war es eine eher klassisch orientierte Institution, welche dieser zweiten Autorinnengeneration Schub verlieh: das Wettlesen im österreichischen Klagenfurt, wo 1976 der Ingeborg-Bachmann-Preis gestiftet wurde.

Karriere begann häufig in Klagenfurt

1991 las Theres Roth-Hunkeler dort ihre Erzählung «Das Muttermal», wurde ausgezeichnet und veröffentlichte ein Jahr später ihr Romandebüt. Ruth Schweikert erregte 1994 Aufsehen mit der Erzählung «Fünfzig Franken» aus «Erdnüsse. Totschlagen», das noch im selben Jahr erschien.

Viele erfolgreiche Karrieren schreibender Frauen begannen damals in Klagenfurt. 1994 nahm auch Andrea Simmen an dem renommierten Wettlesen teil – sie hatte bereits zwei vielbeachtete Bücher publiziert, wurde aber erst mit ihrem unbekümmert schillernden Auftritt in Klagenfurt über die Schweiz hinaus bekannt.

Dass sie heute vergessen ist, hat vor allem damit zu tun, dass sie danach nur noch wenig schreiben und veröffentlichen konnte, bevor sie mit 44 Jahren verstarb.

Literatur hat neuen Hype

Der Ingeborg-Bachmann-Preis war bis zur Jahrtausendwende der wichtigste Literaturpreis im deutschsprachigen Raum. Im Zuge der Digitalisierung folgt der Literaturbetrieb inzwischen einer omnipräsenten Hype-Kultur mit zahlreichen Hot Spots, und Klagenfurt hat an Bedeutung verloren.

Dennoch lesen auch Schweizer Autorinnen der dritten, aktuellen Generation gerne dort – Anna Stern, Gianna Molinari oder Dana Grigorcea. Dass keinem Kritiker, keiner Rezensentin mehr einfallen würde, deren Bücher als «Frauenliteratur» zu bezeichnen, ist das Resultat vorangegangener Kämpfe.

Mit Sprachwitz und Fantasie

Andrea Simmens Generation musste sich noch heftig gegen dieses abwertend gemeinte Etikett wehren. Während vieler von ihnen sich kämpferisch gaben, entwarf Simmen «die Welt, wie mir gefällt» mit entfesselter Fantasie und einem Sprachwitz, den es nun wieder zu entdecken gilt. Beides würde der jungen Schweizer Literatur von heute auch gut anstehen.*

*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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