Plötzlich nichts zu tun: Darum trinkt jeder dritte Rentner
Kaum pensioniert, schon Alkoholiker: Fast jeder dritte Mann ab 65 Jahren greift täglich zur Flasche. Weshalb explodiert der Konsum mit dem Rentnerdasein?

Das Wichtigste in Kürze
- Fast jeder dritte Mann ab 65 Jahren trinkt täglich Alkohol.
- Viele Männer würden nach der Pension den Lebenssinn verlieren, sagen Experten.
- Für Frauen sei die Gefahr weniger hoch, sie hätten ein stärkeres soziales Netz.
Wenn der lang ersehnte Moment zur Suchtfalle wird: Jahrelang fiebern viele Menschen ihrem Ruhestand entgegen. Doch kaum ist es so weit, fallen viele in ein tiefes Loch.
Allen voran Männer. Während der Alkoholkonsum in anderen Altersgruppen rückläufig ist, zeigt sich bei frisch pensionierten Männern ein besorgniserregender Trend.
31 Prozent trinken täglich
Fast jeder dritte Mann ab 65 Jahren trinkt täglich. Ganze 31 Prozent greifen jeden Tag zur Flasche. Dies gemäss den letzten Zahlen des Bundesamtes für Statistik.
Demgegenüber ist der Anteil der Personen, die täglich Alkohol konsumieren, in den vergangenen 30 Jahren von 20 auf neun Prozent zurückgegangen.
Aber warum trinken die Pensionierten im Vergleich so viel?
Peter Burri Follath, Leiter Kommunikation von «Pro Senectute Schweiz», sagt gegenüber Nau.ch: «Wir beobachten, dass der Übergang in den Ruhestand für viele Männer ein kritischer Moment ist. Der Wegfall der beruflichen Strukturen, fehlende Routinen und die neue Lebenssituation können dazu führen, dass der Alkoholkonsum steigt.»
«Einsamkeit, Langeweile oder ein Mangel an Sinnhaftigkeit»
Burri Follath betont, dass Einsamkeit, Langeweile oder ein Mangel an Sinnhaftigkeit zu den zentralen Risikofaktoren gehören würden. «Alkohol wird nicht selten als Bewältigungsstrategie eingesetzt.»
Dem Problem werde in der Schweiz zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt: «Das Angebot an altersgerechten, niederschwelligen Unterstützungsleistungen ist in der Schweiz noch nicht flächendeckend ausreichend», kritisiert Burri Follath.
Entscheidend sei vor allem die Zusammenarbeit zwischen Altersorganisationen, Hausärzteschaft und Suchtfachstellen. Nur so liessen sich bestehende Versorgungslücken wirksam schliessen.
Der Alkohol, die legale Droge
Marcus Meury von «Sucht Schweiz» sieht das Hauptproblem vor allem in der einfachen Verfügbarkeit und der gesellschaftlichen Akzeptanz von Alkohol: «Vor allem in der Generation der heute Pensionierten ist das tägliche Glas Wein oder Bier noch weit verbreitet.»

Treten dann Probleme oder Langeweile auf, liege der Griff zum vermeintlichen «Aufmunterer» nahe. Anfangs funktioniere das auch – doch mit der Zeit brauche es immer mehr Alkohol, um denselben Effekt zu erzielen. «Der Teufelskreis beginnt», warnt Meury.
Mit der Pensionierung die Sinnhaftigkeit verloren
Eine Pensionierung sei immer ein einschneidender Lebensumbruch – und damit auch eine Risikosituation für (selbst)schädigendes Verhalten. Das sagt Mike Sigrist vom «Blauen Kreuz»: «Oftmals wird versucht, die aufkommenden negativen Gefühle durch Alkoholkonsum zu ‹lindern›.»
Viele Betroffene würden sich zunehmend aus der Gesellschaft zurückziehen – oft, weil sie sich selbst keinen gesellschaftlichen Wert mehr zuschreiben. Besonders Männer sind gefährdet, erklärt Sigrist.
«Denn Männer definieren sich auch heute noch häufiger über ihre Arbeit und versäumen es oft, einen Freundeskreis neben der Arbeit aufzubauen. Oder ihre Freizeit mit sinnstiftenden Hobbys zu füllen.»
Gerade deshalb werde der Übergang in den Ruhestand häufig als besonders einschneidend erlebt. Vor allem bei jenen, die sich plötzlich «wertlos und unproduktiv» fühlen.
«Zudem freut sich nicht jeder auf den neuen Lebensabschnitt. Wer ‹gelebt hat, um zu arbeiten›, der erlebt in erster Linie einen grossen Verlust, Verunsicherung und keine Freude», so Sigrist.
Frauen weniger gefährdet
Frauen seien in dieser Lebensphase oft besser abgesichert. Sie verfügten in der Regel über mehr soziale Kontakte, was den Übergang in den Ruhestand abfedern könne. «Denn sie haben nicht alles auf die ‹Karte Arbeit› gesetzt.»
Sigrist betont, dass es durchaus konkrete präventive und unterstützende Angebote gebe. Doch diese könnten nur dann wirksam sein, wenn sie auch tatsächlich genutzt würden.