Pflege-Personal: «Sexuelle Belästigung ist bei uns Alltag»
Das Wichtigste in Kürze
- Sexuelle Belästigung gehört bei Pflegerinnen und Pflegern zum Alltag.
- Nau.ch hat mit drei Betroffenen gesprochen.
- Der Berufsverband versucht mit einem Leitfaden zu sensibilisieren.
Pflegerinnen und Pfleger waren in der Corona-Pandemie stark gefordert – und sind es immer noch. Ältere Menschen sind auch durch Covid-19 in ihrem Alltag auf jegliche Hilfe angewiesen. Was in der Gesellschaft tabuisiert wird: Auch diese Personengruppe belästigt die Pfleger Tag ein, Tag aus auf sexueller Ebene.
Marie C.* ist Fachfrau Gesundheit und arbeitet in einem Berner Altersheim. Die 22-Jährige berichtet Nau.ch aus ihrem Job: «Alltag ist bei uns, dass beim Pflegen der Bewohner die Hand auf dem Hintern landet, wo sie sicherlich nicht hingehört.»
Darüber könne C. noch hinwegschauen und bitte die Bewohner freundlich, die Hand dort wegzunehmen, was im Normalfall schon ausreiche. Es gäbe aber durchaus auch Situationen, wo Grenzen massiv überschritten werden.
«Massiere Ihnen noch die Brüste»
«Einmal begleitete ich einen Bewohner in die Duschkabine. Nachdem ich ihn aufgefordert habe, sich auszuziehen, erwiderte er, ich solle mich doch auch gleich ausziehen. Seine Aufforderung verneinte ich logischerweise», so C.
Der Bewohner liess aber nicht locker, wie C. ausführt: «Keine 30 Minuten später, ich behandelte gerade seine Beine, sagt er zu mir: ‹So, jetzt dürfen Sie noch ihr Oberteil ausziehen und dann massiere ich Ihnen noch die Brüste.› Da war bei mir Ende im Gelände.» C. liess den Bewohner in der Dusche stehen und schickte eine andere Pflegerin zu ihm rein.
Mehr Verständnis bei dementen Personen
Werde ein Bewohner trotz mehrerer Ermahnungen zum Wiederholungstäter, könne er auch aus dem Heim geworfen werden. «Das ist aber zum Glück selten der Fall», ergänzt C. Gerade die Demenz sei in dieser Sache nicht hilfreich. Da dies aber immer schon im Vorfeld bekannt ist, habe man für demente Personen umso mehr Verständnis.
«Man darf von Menschen im hohen Alter nicht verlangen, dass sie keinen Sexualtrieb mehr haben. Dieser ist erstaunlicherweise noch sehr intakt, gerade bei älteren Frauen.» Trotzdem müsse eine Lösung gefunden werden, findet C. Dabei können die Pflegeeinrichtungen auf manche Alternativen zurückgreifen.
Der Arbeitgeber von C. biete den Bewohner etwa Pornos an. Von anderen Heimen wisse sie, dass sogenannte Sexualbegleiterinnen engagiert werden. «Diese Frauen sind nicht mit Prostituierten zu verwechseln, da es nie zum Geschlechtsverkehr kommt.»
Sexualbegleiterinnen werden darin ausgebildet, die sexuellen und körperlichen Bedürfnisse von Menschen mit Handicap oder Betagten mit Berührungen und Begegnungen zu befriedigen. Lediglich neun Frauen sind in der Schweiz offiziell dazu ausgebildet.
Männer bleiben nicht verschont
Jonas G.* hat ebenfalls schon unzählige Male sexuelle Belästigung erfahren. Der 23-Jährige macht zurzeit eine Weiterbildung zum Pflegefachmann und arbeitete schon in mehreren Spitälern und Pflegeheimen. Er hat dabei schon so einiges erlebt: «Dass ältere Frauen dir hin und wieder in den Hintern kneifen, gehört ein wenig zum Berufsrisiko.»
Trotzdem möchte er die Problematik nicht verharmlosen. «Ich glaube, dass gerade Frauen deutlich mehr Opfer von sexueller Belästigung im Pflegealltag werden als Männer», so G. Dies liege aber sicherlich auch daran, dass Pflegeberufe mehrheitlich von Frauen ausgeübt würden.
«Wenn sie dich ins Bett zerren wollen, ist Schluss»
Dieser Meinung schliesst sich auch Rahel S.* an. Wenn die 23-Jährige die Intimpflege bei einem Patienten vornimmt, würden «tragischerweise oft derbe Kommentare» fallen. Sie führt aus: «Fragen wie ‹sind Sie im Intimbereich rasiert?› oder ‹stehen Sie auf grosse Schwänze?› sind leider Standard.» Da einem meist die Worte fehlen, helfe nur noch Ignoranz.
S. arbeitet im Kanton Bern auf einer geriatrischen Rehabilitation. Dort werden Personen behandelt, die aufgrund körperlicher Beschwerden oder altersassoziierter Probleme eingeschränkt sind.
Über die Jahre baue man in diesem Beruf schon eine gewisse Toleranzgrenze auf, so S. Aber: «Wenn Patienten dir am Oberteil ziehen oder versuchen, dich ins Bett zu zerren, ist Schluss.» Als Massnahme würden dann nur noch Männer solche Patienten behandeln, «weil der Patient oft kräftiger ist als ich». Diese Massnahme sei aber nicht immer realisierbar, da schlichtweg das Personal fehle.
Für die Zukunft wünscht sich S., dass die Vorgesetzten strikter durchgreifen.
Arbeitgeber müssen Nulltoleranz signalisieren
Solche Vorfälle sind dem Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK schon länger bekannt. «Es ist ein riesiges Problem», sagt Pierre-Andre Wagner, Leiter Rechtsdienst, auf Anfrage.
Der SKB habe darum gemeinsam mit dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann einen Leitfaden entwickelt. «Dieser enthält praktische Tipps, Prävention und zeigt die rechtlichen Möglichkeiten im Fall von sexueller Belästigung auf.» Mittlerweile seien über 100'000 Exemplare im Umlauf.
Die Vorgesetzten seien da besonders in der Verantwortung, dass die Arbeitnehmer «nicht im Regen stehen gelassen werden». Wagner erklärt: «Signalisiert der Arbeitgeber eine Nulltoleranz bei sexueller Belästigung durch Patienten, wird das von den Arbeitnehmern viel mehr geschätzt.»
Die wichtigste Aufgabe der Vorgesetzten sei dabei die Prävention, zumal sich sexuelle Belästigung in diesem Arbeitsfeld nur schwierig verhindern liesse. Sexfilme oder auch Sexualbegleiterinnen seien eine geeignete Lösung: «Das kann das Risiko, dass es zu sexueller Belästigung kommt, durchaus senken», so Wagner.
*Namen von der Redaktion geändert.