Corona: Eltern von Long-Covid-Kindern kriegen nun Post von der Kesb
Das Leben von Olivia steht seit Corona wegen dem Long-Covid-Syndrom kopf. Sie kann seither nicht zur Schule. Nun werden sogar die Behörden eingeschaltet.
00:00 / 00:00
Das Wichtigste in Kürze
- Die Bernerin Olivia (13) kann wegen Long Covid nicht zur Schule.
- Ihre Mutter erhielt nun eine Gefährdungsmeldung der Kesb – andere betroffene Eltern auch.
- Ein böser Verdacht belastet die betroffenen Familien – zu Unrecht.
Als Olivia* im Herbst 2023 zum zweiten Mal an Corona erkrankte, ahnte niemand, wie radikal sich ihr Leben verändern würde. Die heute 13-jährige Bernerin gehört zu den geschätzt 18'000 Minderjährigen in der Schweiz, die unter Long Covid leiden.
Mit schwerwiegenden Folgen: Erschöpfung, Schwindel, Herzrasen, Verdauungsprobleme und schlechte Durchblutung bestimmen seither ihren Alltag.
Im Sommer 2024 schöpfte die Familie Hoffnung. Bei einer Blutwäsche-Therapie, die Nau.ch begleiten durfte, wurden Spike-Proteine und Blutgerinnsel aus dem Körper gefiltert – mit Erfolg.
Nur: Dieser war nicht von Dauer.
Olivias Mutter Deborah S.** erinnert sich im Gespräch mit Nau.ch nun: «Im November nahm der positive Effekt der Blutwäsche wieder ab, wodurch sich der Zustand erneut verschlechterte.»
Lichtblicke wie das Büsi, das Olivia zu Weihnachten bekam, oder die Teilnahme an einem ambulanten Reha-Programm bringen vorübergehend etwas Hoffnung.
Doch Long Covid bleibt ein Auf und Ab.
00:00 / 00:00
Eine Rückkehr zur Schule ist nicht absehbar. Weil die Kraft fehlt, verlässt Olivia das Haus nur selten.
Nau.ch konnte kein Interview mit der 13-Jährigen führen. Zu sehr war sie an diesem Tag geschwächt.
Viel wurde versucht: Kann der Schulbus sie abholen? Kann sie reduzierten Unterricht machen?
«Sie hat es ein- oder zweimal versucht. Nur schon in den zweiten Stock die Treppe rauf war schon ‹too much›», erinnert sich die Mutter.
Das aufzugeben war auch für Olivia «sehr schwierig». «Sie würde gerne zur Schule gehen.»
Heute wird Olivia zu Hause unterrichtet – zweimal wöchentlich je 30 Minuten.
Olivia kriegt wegen Folgen des Coronavirus kaum Bildung
«Klar ist: Sie kann niemals den Lehrplan einhalten.» Im Mai soll ein runder Tisch beurteilen, ob die Unterrichtszeit erhöht werden kann. Auch die Finanzierung ist offen.
Trotz all dieser Bemühungen hat sich die Kinderschutzbehörde Kesb mittlerweile eingeschaltet.
«Ich konnte es nicht verstehen, wieso», sagt Deborah S. «Die Schule sagt, wenn ein Kind nicht mehr zur Schule gehen kann, dann wolle sie sich absichern.»

«Alle haben das Vorgehen abgesegnet und trotzdem wurde die Kesb eingeschaltet.»
Ein Verdacht, der in solchen Gefährdungsmeldungen mitschwingen kann, ist das sogenannte Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Das ist eine psychische Störung, bei der Eltern ihre Kinder absichtlich krank machen, um Aufmerksamkeit zu erhalten.
2023 wurden in der Schweiz 20 Fälle gemeldet. Das entspricht rund einem Prozent aller Kinderschutzfälle. Auch wenn die Dunkelziffer höher sein dürfte, bleibt das Syndrom sehr selten.
00:00 / 00:00
Bei Deborah S. hat die Meldung bei der Kesb grosse Ängste ausgelöst.
«Es ist ein Riesenskandal, wenn uns Eltern ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom angedichtet wird. Wir wollen ja nur, dass unsere Kinder Hilfe bekommen.»
Eine Fremdplatzierung ist nicht vorgesehen. Die Kesb empfiehlt aber ein stationäres Angebot und eine Beistandschaft.
Deborah S. setzt dahinter ein grosses Fragezeichen.
Eltern wird vorgeworfen, dass sie ihre Kinder krank machen
«Es gibt kein stationäres Angebot, das für die Kinder passend ist. Wo soll meine Tochter also hin? Soll sie in die Psychiatrie, obwohl sie eine somatische und keine psychische Erkrankung hat?»
Die alleinerziehende Mutter hat eine Anhörung verlangt. Noch wurde nichts definitiv verfügt.
Auch Chantal Britt von Long Covid Schweiz kennt diese Problematik. «Wir beobachten in den letzten Jahren eine Häufung von Fällen, wo die Kesb eingeschaltet wird. Wegen der Diagnose Münchhausen by proxy», sagt sie zu Nau.ch.
Diese Diagnose bei Long Covid zu stellen, sei «absurd», sagt sie. «Wegen fehlender Kompetenzen wird den Familien die Schuld gegeben», lautet ihre Kritik.
Zusätzlich belastend: Das Kinderspital Zürich (Kispi) hat die Long-Covid-Sprechstunde für Kinder gestrichen.
00:00 / 00:00
«Für die Betroffenen gibt es nun keine offizielle Anlaufstelle mehr», sagt Deborah S. «Es hat geholfen, eine Diagnose von einem Kinderspital zu haben.»
Und: «Ohne Diagnose gibt es nichts.»
Auch Britt kritisiert den Entscheid: «Das Kispi war die wichtigste Anlaufstelle für betroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien.»
Denn: Nur wenige Spezialistinnen und Spezialisten kennen sich mit Long Covid aus. «Die Mehrheit der Kinderärztinnen und Kinderärzte kennt diese komplexen Krankheitsbilder nicht und schiebt die chronischen Beschwerden auf die Psyche.»
Entsprechend gross seien die Folgen der Schliessung: «Es wird es für die betroffenen Familien um Welten schwieriger, Zugang zu einer angemessenen Versorgung durch Spezialisten zu erhalten.»

Wer es sich leisten kann, fährt ins Ausland. «Familien werden vermehrt zu Spezialistinnen und Spezialisten nach Italien, Deutschland oder Österreich fahren, um eine korrekte Diagnose zu erhalten.»
Die psychosomatische Sprechstunde als Ersatz stösst auf Ablehnung.
«Ein Schlag ins Gesicht», sagt Deborah S. «Wir kämpfen dagegen, dass gesagt wird, die Kinder wollen bloss nicht in die Schule, sie würden sich verweigern. Aber unsere Kinder haben eine klare somatische Erkrankung.»
Kinderspital Zürich: «Verantwortung liegt künftig stärker bei Kinderärzten»
Das Kinderspital Zürich verteidigt den Entscheid, die Long-Covid-Sprechstunde einzustellen.
Lara Gamper vom Kispi betont gegenüber Nau.ch: «Häufig haben somatische Erkrankungen psychische Anteile und psychische Erkrankungen körperliche Anteile.»
«Chronische Erkrankungen mit Alltagseinschränkungen führen sehr oft zu einer psychischen Belastung, die genauso ernst genommen werden soll.»

Die neue, interdisziplinär angelegte Sprechstunde am Kispi sei nicht als Ersatz im engeren Sinn gedacht, sondern als breiteres Angebot konzipiert. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche mit komplexen chronischen Belastungszuständen.
Long Covid sei eine grosse Herausforderung, da man noch nicht weiss, warum sich Menschen davon nicht erholen. «Bis anhin ist die Studienlage noch nicht so weit, entsprechend handelt es sich bei der Diagnose um eine Ausschlussdiagnose.»
Gemäss Gamper ist das Ziel, die betroffenen Kinder ganzheitlich zu erfassen. Die psychosomatische Perspektive solle helfen, «individuelle Therapieansätze und Begleitungen» zu finden.
«Die Verantwortung für Abklärung und Fallführung liegt künftig stärker bei den niedergelassenen Kinderärztinnen und Kinderärzten. Diese kennen die Familien und begleiten sie», sagt sie.
Bundesrat will Versorgung «bedarfsgerecht aufrechterhalten»
Auch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sieht die Problematik. Es verweist gegenüber Nau.ch aber auf die bestehende Aufgabenteilung im Gesundheitssystem.
«Eine Diagnose und gute Behandlung sind für die von Post-Covid-19 betroffenen Erwachsenen und Kinder zentral», sagt BAG-Sprecher Simon Ming.
Doch: Für die konkrete Umsetzung sei in erster Linie nicht der Bund zuständig, sondern die Kantone. Die erste Anlaufstelle sei jeweils die Hausärztin oder der Hausarzt.
Ming sagt: «Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Versorgung auch in Zukunft bedarfsgerecht aufrechterhalten und noch bestehende Lücken geschlossen werden sollen.»
Deborah S. kämpft dagegen, dass das Coronavirus und damit auch Long Covid in Vergessenheit gerät.
00:00 / 00:00
«Wir sollten wir zusammenstehen», mahnt sie. «Es gibt zwei Gräben: die, die gegen die Massnahmen waren und die, die dafür waren.»
Oft erlebe sie Häme, wenn sie davon spricht, dass ihre Tochter an Long Covid erkrankt ist. «Selber schuld, ihr habt euch ja impfen lassen», hört sie dabei etwa.
Sie stellt aber klar, dass es bei der Patientenorganisation Long Covid Schweiz beides gebe. Solche, die mit den Folgen der Impfung kämpfen, und viele, deren Immunsystem bis heute vom Coronavirus geschwächt ist.
Beides soll die nötige Anerkennung und Behandlung erhalten – ohne dass es gegeneinander ausgespielt werde, findet sie.
Folgen des Coronavirus: «Long Covid macht extrem einsam»
Von der Politik erwartet sie, Zahlen zu Long Covid zu erfassen und in die Forschung investieren. «Es gibt uns, wir sind viele und wir brauchen Hilfe», stellt sie klar.
An die Freunde und Gspänli gerichtet sagt Deborah S. abschliessend: «Vergesst Olivia nicht. Die Krankheit macht extrem einsam.»
Betroffene Kinder und Jugendliche freuen sich über eine Nachricht – oder, wenn es das kräftemässig zulässt, über einen Besuch. «Sie sind noch da – und sie sind noch immer der gleiche Mensch.»
* Name von der Redaktion geändert.
** Name der Redaktion bekannt.