Lehrer beklagen sich über verhaltensauffällige Kleinkinder. Erziehungsdefizite seien Schuld. Ist es wirklich so schlimm? Erziehungs-Expertinnen ordnen ein.
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Schulleiter regen sich über ausrastende Kindergärtler auf und sprechen von Erziehungsdefiziten. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Lehrer und Schulleiter beklagen sich über verhaltensauffällige Kleinkinder.
  • Sie würden an einem «Erziehungsdefizit» leiden, sagt ein Aargauer Schulleiter.
  • Steht es wirklich so schlecht um die Kinder – und Eltern – von heute?
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Die Schilderungen schockieren und machen nachdenklich: «Gewalt geht heute mehrheitlich schon von den jüngsten Kindern aus», sagt der Präsident des Basler Lehrerverbands, Jean-Michel Héritier.

Immer mehr jüngere Kinder seien verhaltensauffällig, sagt auch Philipp Grolimund, Co-Präsident des Verbandes der Aargauer Schulleiter in der Sonntagspresse. Er spreche dabei vom Kindergarten und der ersten Primarklasse. «Heute rasten schon Vierjährige aus», so Grolimund.

Den Grund dafür sieht er unter anderem in «Erziehungsdefiziten». Viele Kinder seien es gewohnt, zu Hause im Mittelpunkt zu stehen. Sie kämen nicht damit klar, die Lehrperson mit den anderen Kindern teilen zu müssen und würden für vieles eine Belohnung erwarten, sagt er. Die Frustrationstoleranz sei äusserst klein, so Grolimund.

Vier bis elf Prozent der Kleinkinder haben Probleme

Was läuft hier schief bei Eltern und Kindern? Für Erziehungs-Expertinnen ist die Sache differenziert zu betrachten. «Ich finde es sehr problematisch, von «Erziehungsdefiziten» zu sprechen. Erziehung ist immer herausfordernd und das Verhalten eines Kindes wird nicht nur von den Eltern beeinflusst», sagt Tina Hascher, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Bern gegenüber Nau.ch.

Sie habe kürzlich eine vom schweizerischen Nationalfonds geförderte Studie zur kindlichen Entwicklung im Vorschulalter durchgeführt, die eine andere Entwicklung aufzeige. «Die Kinder scheinen gut im Klassenzimmer integriert zu sein sowie gute soziale Fähigkeiten zu besitzen», so Hascher.

Bei dieser Studie hätten jedoch Familien mit einem tendenziell höheren sozioökonomischen Hintergrund teilgenommen.

Finden Sie den Kindergarten-Eintritt im Alter von vier Jahren zu früh?

Konkrete Zahlen kennt Margrit Stamm, Autorin und emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie. «Die Forschung sagt nicht, dass Erziehungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten ein allgemeines Problem sind», so Stamm. Vier bis elf Prozent der Kleinkinder hätten Probleme im Kindergarten. Dazu gehörten Dinge wie Tränen beim Abschied oder auch Trotzverhalten in der Gruppe.

«Hat nun jede Kindergartenperson ein bis zwei Kinder, die auffällig sind, ist das trotzdem eine Belastung», erklärt Stamm.

Kindergartenkinder
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An Zürcher Kindergärten herrscht akuter Lehrpersonen-Mangel.
An Zürcher Kindergärten herrscht akuter Lehrpersonen-Mangel.
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Drei Erziehungswissenschafterinnen nehmen Kinder und Eltern – aber auch die Lehrer – in Schutz.

Die Gründe für die Verhaltensauffälligkeiten seien durchaus auch im Elternhaus zu suchen, sagt Stamm. Sie nimmt da vor allem den bedürfnisorientierten Erziehungsstil ins Visier, der oft von Familienberatungs-Instituten propagiert wird. Dieser sei zwar wunderbar, aber funktioniere in der Praxis nicht, wenn man die Kinder lebenstüchtig machen wolle.

Es sei bei verhaltensauffälligen Kindern jedoch zu einfach zu sagen, die Eltern seien falsch gestrickt. Auch das frühere Schuleintritts-Alter spiele eine Rolle, sowie der Kindergarten selbst, der schulähnlich geworden sei. «Heute wird schon von Vierjährigen erwartet, dass sie stillsitzen und Fragen beantworten können.» Auch die Kindergarten-Lehrpersonen stünden unter Druck. «Ein Teufelskreis», so Stamm.

Ausraster mit vier Jahren sind «normal»

Und was ist mit den vielen Ausrastern, die Lehrpersonen bei Vierjährigen beklagen?

Eine geringe Frustrationstoleranz bei Vierjährigen – oder in der Fachsprache eine «noch geringe Selbstregulationskompetenz», sei normal in diesem Alter, erklärt auch Miriam Compagnoni, Oberassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Uni Zürich.

Die Hirnareale, die dabei beteiligt sind, würden sich als letzte entwickeln. «Etwa 20 Prozent der Kinder sind ‹Spätentwickler›, die erst mit zirka fünf Jahren gut lernen, sich selbst zu regulieren.»

Bei Vierjährigen sei eine geringe Frustrationstoleranz normal, sagen die Erziehungs-Expertinnen. - keystone

Für die Lehrpersonen könne dies sicher belastend sein, so Compagnoni. Eine frühe Förderung der Selbstregulations-Kompetenzen sei deshalb eine zentrale Aufgabe von Schule und Eltern. «Eltern und Lehrpersonen müssen zusammen helfen, damit Kinder sozio-emotionale Kompetenzen entwickeln», sagt auch Tina Hascher.

Instant-Bedürfnisbefriedigung besser unterlassen

Zur Förderung der Selbstregulation gehöre vieles, wie ein Umfeld, das herausfordernd sei, das Kinder Fehler machen lasse und auch mal Frust zulasse. «Regelspiele, keine Instant-Bedürfnisbefriedigung, sondern warten mit Essen, bis alle am Tisch sitzen und Beschränkung von Medienkonsum zum Beispiel», sagt Miriam Compagnoni. Aber auch ganz simple Dinge wie genügend Schlaf und die richtige Ernährung seien wichtig.

Lehrpersonen würden aber immer wieder von einer Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten berichten. Diese subjektive Sicht sei wichtig und müsse man ernst nehmen. «Dass gleich die gesamte Inklusion infrage gestellt wird, überrascht nicht, finde ich aber problematisch.»

Denn genauso wie von Lehrern eine individualisierte Förderung der Kinder erwartet werde, wünsche sie sich auch für die jeweiligen schwierigen Situationen individuelle Lösungen, damit Lehrpersonen und Kinder schnell angemessene Unterstützung erhalten. Da gebe es an vielen Schulen schon gute Ansätze.

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