Alterstest verhindert kaum Auto-Unfälle: Braucht es mehr Technik?

Elena Hatebur
Elena Hatebur

Bern,

Autofahren im Alter ist ein heikles Thema. Insbesondere, wenn man bemerkt, dass eine Person nicht mehr sicher unterwegs ist. Experten raten zu Sensibilität.

Senior im Auto
Für viele Seniorinnen und Senioren ist das Auto ein Ausdruck für Selbstständigkeit. Den Führerschein abgeben? Auf keinen Fall. (Symbolbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Rund 40 Prozent der Unfalltoten sind 65 Jahre alt und älter.
  • Trotzdem ist der Verzicht auf das Autofahren für viele Senioren ein Tabu.
  • Experten raten zu Sensibilität.

«Fahrunfähige Seniorin prallt in Brückengeländer», «77-jährige Seniorin fährt Kind an», «Senior schläft am Steuer ein – und baut Unfall». Die jüngsten Vorfälle lassen aufhorchen.

Mit der zunehmenden Alterung der Schweizer Bevölkerung verschärft sich eine sensible Frage: Wann wird Autofahren im Alter zur Gefahr? Und vor allem: Wie spricht man das an, ohne Menschen zu beleidigen und Beziehungen zu beschädigen?

Für viele ältere Menschen steht das Auto für Freiheit, Selbstständigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Oft ist es das letzte Stück gelebter Unabhängigkeit. Wer es abgibt, gibt ein Stück Selbstbestimmung auf.

Entsprechend emotional reagieren Betroffene, wenn Angehörige und Fachleute ihre Zweifel an der Fahrtauglichkeit äussern.

Verletzlicher im Verkehr

Fakt ist: «Ältere Menschen sind verletzlicher», sagt Lucien Combaz, Mediensprecher der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU). Das zeigt nicht nur die generelle Unfallstatistik nach Altersgruppen, sondern auch die Betrachtung der tödlichen Unfälle.

Rund 40 Prozent der Unfalltoten sind 65 Jahre alt und älter, so die Zahlen der BFU. Komplexe Verkehrssituationen, Engpässe und Verzweigungen sorgen für zusätzliche Risiken.

Mit dem Alter nehmen Mobilität, Sicht und Reaktionsfähigkeit ab. «Rund 90 Prozent der verkehrsrelevanten Informationen werden visuell aufgenommen», erklärt Michael Gehrken, Präsident des Schweizerischen Fahrlehrerverbands «L-Drive».

Die Sicht bei Dämmerung verschlechtere sich, das Gehirn werde müder, der Schulterblick schmerzhafter. Häufig auftretende Folgefehler seien riskantes Einspuren, zu wenig Abstand und ein schlechtes Geschwindigkeitsgefühl.

Verkehrsmedizinische Kontrolluntersuchung – ist sie wirklich nötig?

Um die hohe Unfallrate und vor allem die Unfalltoten zu vermeiden, setzt der Bund präventiv auf die sogenannte «verkehrsmedizinische Kontrolluntersuchung». Heisst: Ab dem 75. Altersjahr müssen Autofahrer alle zwei Jahre bei den zuständigen Behörden vorstellig werden.

Wer den Führerausweis behalten möchte, muss sich von einem Arzt mit entsprechender Anerkennung untersuchen lassen. «In den meisten Fällen handelt es sich dabei um die Hausärztin oder den Hausarzt», erklärt die BFU.

Kennst du jemanden, der im hohen Alter unsicher Auto fährt?

Werden die medizinischen Mindestanforderungen nicht erfüllt, droht der Führerausweisentzug. Man habe diese Kontrolluntersuchung umfassend evaluiert, sagt Mediensprecher Lucien Combaz.

Anders als Pro Senectute oder der TCS kommt die BFU jedoch überraschend zum Schluss: Die Kontrolluntersuchung bringt kaum etwas.

Combaz: «Das Unfallgeschehen von älteren Lenkerinnen und Lenkern kann durch ‹mensch-bezogene› Massnahmen nur begrenzt beeinflusst werden. Fahrerassistenzsysteme und Automatisierung haben hingegen Potenzial.» Sprich: Die Senioren brauchen die Technik, um weniger Unfälle zu bauen.

«Automatisierungssysteme machen Verkehr sicherer»

Combaz führt aus: «Fahrerassistenzsysteme wie der Notbremsassistent sind wichtige Technologien zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, insbesondere für ältere Lenkerinnen und Lenker.» Solche Systeme seien hilfreich, um Fehler durch menschliche Einschränkungen auszugleichen.

«Die Fortschritte der Automatisierung können ebenfalls Vorteile bringen», erklärt Combaz. Es sei zwar noch «Zukunftsmusik», langfristig würden Fahrzeuge mit Automatisierungssystemen den Verkehr jedoch sicherer machen.

Das gelte ganz allgemein, nicht nur für Senioren. Denn: «Diese Systeme halten sich konsequent an die Verkehrsregeln, werden nicht müde und können blitzschnell reagieren, wenn es darauf ankommt.»

Technische Mindeststandards als mögliche Pflicht

Könnte also bald eine Pflicht zu Fahrassistenz-Systemen eingeführt werden – oder die Pflicht zum Automaten ab 75 Jahren?

Marionna Schlatter, Nationalrätin und Vize-Präsidentin der Grünen, schliesst das nicht aus. Sie sagt zu Nau.ch: «Bereits heute sind Ausweisbeschränkungen möglich, z.B. für bestimmte Strecken oder bzgl. Geschwindigkeit. Es ist denkbar, dass in Zukunft auch technische Anforderungen an das Fahrzeug als solche Beschränkung etabliert werden.»

Marionna Schlatter
Marionna Schlatter von den Grünen findet Fahrassistenzsysteme sinnvoll. - keystone

So könnten technische Mindeststandards in Autos ab einem gewissen Alter verlangt werden.

Für Schlatter ist klar: «Fahrassistenzsysteme könnten Sinn machen, z.B. ein Notbremsassistent oder auch ein Abstandsregeltempomat. Die Verbreitung solcher Systeme kann zur Verbesserung der Verkehrssicherheit beitragen.»

Die Technik von Automatisierungssystemen werde immer besser. Aber: «Noch ist sie im komplexen Innerorts-Mischverkehr überfordert.»

Christian Wasserfallen
Für den FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen ist klar: «Wenn die BFU zum Schluss kommt, dass die verkehrsmedizinischen Kontrolluntersuchung keine Wirkung zeigen, dann sind sie aufzuheben.» (Archivbild) - keystone

Christian Wasserfallen, Nationalrat FDP, hält dagegen: «Eine Vorschrift für den Einbau solcher Systeme würde ich nicht einfordern.» Dennoch seien sie eine sinnvolle Entwicklung, die zur Sicherheit des Verkehrs beitrage.

«Den Faktor Mensch kann man nicht einfach so ausschalten», sagt Wasserfallen. Aber mit den Systemen könne man Aufmerksamkeitsdefizite positiv korrigieren.

Er empfehle allen, ob jung oder alt, Fahrkurse zu besuchen. Aber: «Ein Obligatorium halte ich für falsch», präzisiert der 44-Jährige.

Die Rolle der Hausärzte

Mit all den bekannten Risiken bleibt am Ende die entscheidende Frage: Wie spricht man es an, wenn man das Gefühl hat, dass Grossmutter oder Grossvater nicht mehr sicher unterwegs sind?

«Mit viel Einfühlungsvermögen und ohne Vorwürfe», rät Pro Senectute. Die Sorge in den Vordergrund zu stellen, sei zentral: Also nicht «Du fährst schlecht», sondern «Ich mache mir Sorgen, dass dir etwas passiert».

Peter Burri Follath, Leiter Kommunikation, erklärt: «Der Hausarzt kann in vielen Fällen eine geeignete Anlaufstelle sein.» Aber wenn über Jahre ein vertrauensvolles Verhältnis entstehe, sei es «manchmal schwierig, eine kritische Einschätzung zur Fahreignung zu äussern.»

Trotzdem seien Hausärzte meist in einer guten Position. Sie könnten mögliche Einschränkungen «frühzeitig erkennen und mit den betroffenen Seniorinnen und Senioren behutsam besprechen».

Auffrischung statt Verbot

Der Touring Club Schweiz (TCS) empfiehlt, nicht sofort ganz auf das Autofahren zu verzichten. Eine Einschränkung könne genügen: nur noch bei Tageslicht, nicht bei Regen, stark frequentierte Verkehrsadern vermeiden.

Mediensprecher Marco Wölfli verweist auf die Auffrischungskurse. Freiwillige Fahrtrainings könnten helfen, Sicherheit im Strassenverkehr zu gewinnen.

Es gebe zwar ein umfassendes Angebot von freiwilligen Weiterbildungskursen, sagt Michael Gehrken vom Fahrlehrerverband. Aber: «Es wäre indessen gelogen, zu behaupten, die Freiwilligkeit funktioniere, wenn es um Weiterbildungen im Strassenverkehr geht.»

Für die meisten Verkehrsteilnehmenden sei das Thema Aus- und Weiterbildung mit der Prüfung abgeschlossen.

Wenn Widerstand kommt

Wenn seitens Ärzte und Strassenverkehrsamt Zweifel an der Fahrkompetenz der Senioren bestehen, wird eine Kontrollfahrt angeordnet.

Wer diese absolvieren muss, wird zunächst zu einem Vorgespräch eingeladen. «Dieses Gespräch dient dazu, mögliche emotionale Spannungen im Zusammenhang mit der Kontrollfahrt abzubauen», erklärt Nadia Gautschi vom Strassenverkehrsamt Kanton Bern.

«Oft wird auf eine langjährige unfallfreie Fahrpraxis verwiesen und der Anlass der Kontrollfahrt als unbegründet oder zufällig dargestellt.» Egal, ob die Gründe dafür medizinischer oder verkehrsbezogener Natur seien.

Verzweigung
Bei einer Kontrollfahrt werden verschiedene Fähigkeiten überprüft. Dazu gehört auch das Verhalten an Verzweigungen. (Symbolbild) - keystone

«Gerade deshalb hat sich das Vorgespräch als entscheidendes Instrument bewährt», erklärt Gautschi. Es bietet den Betroffenen eine Möglichkeit, Bedenken und Emotionen anzusprechen.

«Dadurch kann im Verlauf des Gesprächs in den meisten Fällen eine positive oder zumindest sachliche Haltung erreicht werden.»

Das Auto bleibt mehr als ein Fahrzeug

Zum Schluss bleibt ein psychologischer Faktor: Mobilität bedeutet Teilhabe. Besonders ausserhalb der Städte droht soziale Isolation, wenn die Schlüssel abgegeben werden.

Grundsätzlich sind sich die Fachstellen einig: Hilfreich ist nicht das «Nein», sondern das «Wie weiter?».

Burri Follath von Pro Senectute resümiert: «Das Ziel sollte immer sein, eine Lösung zu finden, die Sicherheit und Selbstständigkeit bestmöglich miteinander verbindet.»

Kommentare

User #1132 (nicht angemeldet)

Die Körperfunktuionen sollten mir einbezogen werden. Zum Jassen haben sie einen Kartenständer, aber Reaktionen gleich Null!

User #5811 (nicht angemeldet)

Niemals glauben die Dummen den Intelligenten.

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