Adrian Vatter: Politikprofessor nimmt neuen Gemeinderat unter Lupe
Der BärnerBär hat die neuen Berner Gemeinderäte zum Gespräch gebeten. Politikprofessor Adrian Vatter ordnet nun ein – und gibt dem Gemeinderat eine Note.

BärnerBär: Adrian Vatter, drei von fünf Gemeinderäten sind neu. Welchen Eindruck haben Sie nach den ersten sechs Monaten von ihnen gewonnen?
Adrian Vatter: Einen insgesamt guten Eindruck. Das Gremium handelt schon zu diesem frühen Zeitpunkt konsolidiert und versuchte bereits, strategische Schwerpunkte zu setzen – beispielsweise bei der Ressourceneffizienz oder beim Klimaschutz. Alle drei Neuen verfügen über einen politischen Hintergrund, den sie nun in ihre Direktionen einbringen können. Insgesamt hat Berns Exekutive also einen engagierten Start hingelegt, von einigen kleinen Aufregern einmal abgesehen.
BärnerBär: So ein Aufreger war das Wut-Interview von Alec von Graffenried kurz vor Neujahr, in dem er erläuterte, wie weh es ihm getan habe, bei der Direktionsverteilung übergangen worden zu sein.
Adrian Vatter: Die Sicherheitsdirektion stand bei ihm nicht zuoberst auf der Wunschliste, das hat er in dem von Ihnen erwähnten Artikel unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Für seine Psychohygiene war es aus seiner Sicht wohl wichtig, seinen Unmut so zu äussern.
Machtpolitisch hat die SP hier klare Kante gezeigt: Zuerst indem sie im Wahlkampf gegen einen bisherigen Stapi angetreten ist, zweitens, als sie bei der Direktionszuteilung nicht auf von Graffenrieds Wünsche einging.
BärnerBär: Alec von Graffenrieds Interview hat zur Transparenz beigetragen?
Adrian Vatter: In einem gewissen Sinne schon. Die Bürgerinnen und Bürger erfuhren, was in einer Regierung, die für Aussenstehende oft eine Black Box ist, hinter den Kulissen abläuft, etwa in Bezug auf die Machtverhältnisse. Eher negativ war aber, dass Stadtpräsidentin Marieke Kruit in ihrer Rolle als Moderatorin innerhalb dieses Gremiums dadurch sofort stark unter Druck geriet. Das hat kurzzeitig zu einem Vertrauensverlust in die Stadtregierung geführt. Seither kommuniziert der Gemeinderat unter Kruits Führung hingegen ziemlich überzeugend.
BärnerBär: Hat Alec von Graffenried die Stärke und das Know-how, um in der verfahrenen Beziehung zur Reitschule neue Akzente zu setzen?
Adrian Vatter: Grundsätzlich ist dieses Dossier Chefinnensache, sprich: Marieke Kruit hält hier die Fäden zusammen. Alec von Graffenried gefällt in dieser nicht sonderlich einfachen Rolle indes ansprechend. Er probiert, Offenheit zu zeigen, indem er das Gespräch mit den Reitschule-Verantwortlichen sucht, sich andererseits aber konsequent vor seine eigenen Leute stellt und weiterhin Kontrollen einfordert.
BärnerBär: Kommen wir zu den neuen Mitgliedern und beginnen wir mit Ursina Anderegg.
Adrian Vatter: Es wurde und wird versucht, auf sie, aufgrund ihrer Dossiers und da sie von bürgerlicher Seite als die am «linkste Gemeinderätin» eingestuft wird, verbal einzuprügeln. Ihre Entscheidungen wirken dagegen durchaus kompetent. Defizite scheinen mir bei der externen Kommunikation vorhanden.

BärnerBär: Sie sprechen die Art und Weise an, wie die Schliessung der Classes bilingues kommuniziert wurde.
Adrian Vatter: Ja. Ursina Anderegg war wahrscheinlich zu wenig bewusst, was objektiv durchaus nachvollziehbare Entscheidungen für emotionalen Symbolcharakter und ergo für Folgen haben können.
Persönlich
Adrian Vatter, geboren 1965, ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Bern und Professor für Schweizer Politik. Bei SRF kommentiert er jeweils die Bundesratswahlen. Vatter ist verheiratet und hat zwei Kinder.
BärnerBär: Persönliche Angriffe gehören doch zum politischen Spiel mit dazu?
Adrian Vatter: Ursina Anderegg ist für die Bürgerlichen ein rotes Tuch, sie trat als Stadträtin pointiert am äussersten linken Rand auf. Den Rollenwechsel hin zur Kollegialpolitikerin hat sie nun gut gemeistert. Demgegenüber wurden ihr schwierige Dossiers hinterlassen, etwa die Software-Projekte, die nicht funktionieren und Geld kosten. Anderegg merkt jetzt, was es bedeutet, Budgetvorgaben einhalten zu müssen.
So begründete sie den Stopp der Class bilingues ja auch vornehmlich mit finanziellen Argumenten. Generell kann man sagen, dass gerade zu Beginn einer Legislatur vom politischen Gegner ausgetestet wird, ob sich jemand aus der Reserve locken lässt.
Das gilt für sämtliche Exekutivpolitikerinnen und -politiker: Da braucht es eine dicke Haut. Und Ursina Anderegg ist wie gesagt die linkste Gemeinderätin von allen, die erst noch die Sozialdirektion führt.
BärnerBär: Sie selbst meinte im BärnerBär-Interview, sie habe durchaus mit solchen Reaktionen gerechnet.
Adrian Vatter: Es ging bei diesem Beschluss um negative Betroffenheiten und um eine hoch aufgeladene Debatte, die weit über die Stadt hinausging, nämlich jene des Frühfranzösisch.
Hier hätte proaktiver kommuniziert, hätten Eltern wie auch politische Gegner schneller ins Boot geholt werden müssen. Das ist kein inhaltlicher Vorwurf, bloss hat die externe Kommunikation für ein nächstes Mal Optimierungspotenzial.
BärnerBär: Machen wir weiter mit Melanie Mettler: Steht sie als einzige Zentrumspolitikerin in der Exekutive tatsächlich auf verlorenem Posten?
Adrian Vatter: Die Forschung zeigt, dass es innerhalb von Kollegialbehörden wie einem Bundesrat oder einer Kantonsregierung einerseits durchaus wechselnde Allianzen gibt, die oft dossier- und personenabhängig sind. Andererseits stellt Rot-Grün in Berns Exekutive eine deutliche Mehrheit. Wenn es um strategisch wichtige linke Ziele wie Sozialpolitik geht, werden wohl eher 4:1-Entscheidungen getroffen, ansonsten gehe ich von oft wechselnden Koalitionen aus.
BärnerBär: Wie agiert Melanie Mettler als Gemeinderätin?
Adrian Vatter: Sie ist sehr dossierfest und tritt als Teamplayerin auf. In der Finanzpolitik, namentlich beim Budget 2026, hat sie ihre Gemeinderatskolleginnen und -kollegen bisher gut miteinbezogen. Der Lackmustest erfolgt dann allerdings, wenn das Geschäft in den Stadtrat kommt.

BärnerBär: Wie lautet Ihr Zwischenfazit zu Matthias Aebischer?
Adrian Vatter: Er ist ein politischer Vollprofi und agiert kommunikativ stark. Aebischer ist kein Ideologe, sein Verständnis für das Gewerbe scheint authentisch zu sein. Gleichzeitig will er Missbrauch vonseiten des Privatverkehrs verhindern.

Beim Ausbau des Autobahnknotens Wankdorf hat der Gemeinderat eine Positionsveränderung vorgenommen, die aufgrund des eidgenössischen Abstimmungsentscheids allerdings nachvollziehbar ist. Matthias Aebischer macht einen pragmatischeren Eindruck als andere Gemeinderätinnen, die vor ihm diese Direktion leiteten.
Diesen Befund würde ich übrigens dem gesamten Gemeinderat attestieren: Es ist eine rot-grüne Regierung am Ruder, doch es dominiert keine überzeichnete Ideologie.
BärnerBär: Sprechen wir über Marieke Kruit als Stadtpräsidentin. Sie macht diesen Job augenscheinlich ziemlich gerne.
Adrian Vatter: Ja, diesen Eindruck teile ich. Als eine Person, die bereits zuvor Gemeinderätin war, wusste sie im Vorfeld, worauf es ankommen wird. Dazu hatte sie mit ihrem exzellenten Wahlresultat aus dem ersten Stadtpräsidiums-Wahlgang, als sie einen Bisherigen in die Schranken wies, eine hohe Legitimation.

Auf das Interview von Graffenrieds schwieg sie souverän, was kommunikativ geschickt war. Im Januar brachte sie dann ihre moderative Rolle bei der Reitschule klar zum Ausdruck und verlangte nach «Runden Tischen». Kruit setzt um, was von einer Kollegialpolitikerin mit Führungsposition erwartet wird: Sie leitet ausgewogen, wobei sie die Zügel in der Hand hält.
BärnerBär: Welche Stolpersteine erwarten die Stadtregierung in den nächsten Monaten?
Adrian Vatter: Die Budgetdebatte habe ich schon erwähnt. Ausserdem wurden in der vergangenen Legislatur zahlreiche Projekte wie zum Beispiel Viererfeld oder Gaswerkareal aufgegleist. Nun sind diese Projekte teilweise blockiert, deshalb wird es wichtig sein, sie endlich umzusetzen, um rasch neuen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Insgesamt bringen die jetzige wie die vorherige Berner Stadtregierung ihre Abstimmungen mit hohen Erfolgsquoten durch. Die durchschnittliche Zustimmung im letzten halben Jahr lag bei rund 75 Prozent. Die Bevölkerung steht also hinter ihrer Regierung. Das ist Ausdruck einer partizipativen, aber auch gelungenen Gemeinderatspolitik.
BärnerBär: Schlussfrage: Welche Gesamtnote geben Sie dem Gemeinderat?
Adrian Vatter: Eine gute 5. Er leistete in den ersten sechs Monaten bemerkenswerte Arbeit, legte eine inhaltliche Agenda mit Legislaturzielen vor, die Führung der neuen Stadtpräsidentin ist deutlich ersichtlich. Es gab kleine Aufreger, die hingegen zum Spiel gehören.
Die Schlussnote können wir wohl erst Ende der Legislatur verteilen. Entscheidend wird sein, ob der neue Gemeinderat die vielen aufgegleisten Infrastrukturprojekte auch erfolgreich zu Ende bringen kann.
BärnerBär: Ist der aktuelle Gemeinderat ein besserer als der vorherige?
Adrian Vatter: (überlegt) Fragen Sie mich in dreieinhalb Jahren nochmals (lacht).