«Dieser Vorwurf ist aus der Luft gegriffen»
Die Berner Gemeinderätin Ursina Anderegg hat nach der Ankündigung, das Projekt Classes bilingues zu stoppen, eine intensive Zeit hinter sich.

BärnerBär: Ursina Anderegg, wie haben Sie sich in Ihr neues Amt eingelebt?
Ursina Anderegg: Es macht mir grosse Freude, obschon das erste Halbjahr schon ziemlich intensiv war. Der Einstieg fiel mir leicht, was einerseits mit den zahlreichen engagierten Menschen in meiner Direktion zu tun hat und andererseits damit, dass ich viele Geschäfte bereits vom Stadtrat her gut gekannt habe.
BärnerBär: Sie würden die tolle Stimmung innerhalb des Gemeinderats also bestätigen?
Ursina Anderegg: Ja, wir haben uns menschlich schnell gefunden und uns Zeit genommen, eine gute Gesprächskultur zu etablieren. Es wird einander zugehört, und wir sind interessiert an der Haltung des Gegenübers.
BärnerBär: Finanzdirektorin Melanie Mettler präsentierte vor kurzem ein ausgeglichenes Budget, wobei jede Direktion Einsparungen vornehmen musste. Wo tat es Ihnen am meisten weh?
Ursina Anderegg: Die Kürzungen treffen vor allem den Bildungsbereich: Bei der Tagesbetreuung oder im Schulwesen werden Abstriche vorgenommen.
BärnerBär: Abgebaut wird bekanntermassen auch bei den Classes bilingues.
Ursina Anderegg: Richtig. Konkret werden dadurch 800‘000 Franken eingespart. Die Finanzen waren aber nicht der Hauptgrund für die Nichtverlängerung des Schulversuches.
BärnerBär: Haben Sie damit gerechnet, dass es wegen der Abschaffung der Klassen einen solchen Aufschrei geben wird?
Ursina Anderegg: Ja. Der Entscheid betrifft rund 90 Kinder, die verständlicherweise enttäuscht sind. Hinzu kommen deren Eltern, die sich mit dem Projekt sehr stark identifizierten sowie Mitarbeitende, die für die Classes bilingues arbeiten. Doch wir haben gute Gründe für diesen Entschluss.
BärnerBär: Welche sind das?
Ursina Anderegg: Die Frage, wie Französisch über den aktuellen obligatorischen Unterricht hinaus zusätzlich gefördert werden kann, ist komplex und herausfordernd. Ich würde gerne kurz ausholen.
BärnerBär: Bitte.
Ursina Anderegg: Der Schulversuch startete 2019 mit einer Laufzeit bis 2026. Die Classes bilingues hatten zum Ziel, zweisprachigen Unterricht zu testen, indem probiert wurde, die Lehrpläne aus der Romandie und jene von Bern aufeinander abzustimmen. Das hat leider nicht geklappt, ohne bei den obligatorischen Fächern Abstriche zu machen – einer von diversen Gründen, wieso der Versuch nicht verlängert wurde.
BärnerBär: Und weitere Gründe?
Ursina Anderegg: Es gab grosse Herausforderungen, aufgrund des Fachkräftemangels genügend zweisprachige Lehrpersonen zu finden und dieses Zusatzangebot in einem Schulsystem, in dem schon viel Druck ist, zu stemmen. Und: Das Projekt verlangte nach zusätzlichem Schulraum sowie zusätzlichen Finanzen.
BärnerBär: Wie soll Bern den Gedanken des sprachlichen Brückenbauens in Zukunft wahrnehmen?
Ursina Anderegg: Die Stadt engagiert sich auf verschiedenen Ebenen für das Französisch. Im Schulbereich werden wir nun im Rahmen unserer Möglichkeiten andere Wege suchen und zum Beispiel vermehrt Austauschprogramme bewerben. Auf Ebene Kanton sind im Zusammenhang mit bilingualem Unterricht zudem mehrere Vorstösse hängig.
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In einer Miniserie stellte der BärnerBär die drei neuen Stadtberner Gemeinderäte vor. Nächste Woche ordnet Politikwissenschaftler Adrian Vatter die Leistungen des Gremiums ein.
BärnerBär: Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, die Classes bilingues seien Ihnen sowieso ein Dorn im Auge, da sie tendenziell von gut situierten Schülerinnen und Schülern besucht wurden.
Ursina Anderegg: Ich habe soeben die fachlichen, organisatorischen und finanziellen Gründe, welche zum Entscheid geführt haben, erläutert. Diese haben wir von Anfang an kommuniziert. Was mich wirklich erstaunt hat, waren die etlichen vermeintlichen Beweggründe meinerseits, die herumgereicht wurden, während den involvierten Fachpersonen ihre Einschätzungen laufend abgesprochen wurden.
Diese persönlichen Angriffe auf die Involvierten und meine Person haben mich irritiert. Das mag Teil des politischen Spiels sein, ist aber nicht mein Stil. Ich möchte lieber auf der sachlichen Ebene argumentieren. Um auf den von Ihnen erwähnten Vorwurf zurückzukommen: Er ist aus der Luft gegriffen.
BärnerBär: Schlaflose Nächte hatten Sie in dieser Phase keine?
Ursina Anderegg: Nein. Aber ich hatte weniger Zeit zum Ausruhen, weil die Bewältigung dieses Sturms sehr viel zu tun gab.
BärnerBär: Es wird jedenfalls nun niemand mehr behaupten, Sie seien nicht in Ihrem Amt angekommen.
Ursina Anderegg: Genau. Es war eine spannende Erfahrung, zu beobachten, was so etwas bei mir als Mensch auslöst.
BärnerBär: Und?
Ursina Anderegg: Es gehört zu meinem Job, auch unbequeme Entscheidungen zu treffen und zu kommunizieren und mit Kritik muss ich umgehen können. Ich habe nun gemerkt, dass ich einen Umgang mit solchen Situationen finden kann.
BärnerBär: Bleiben wir bei der Bildung: Wie steht es um die Berner Kitas?
Ursina Anderegg: Etliche Berner Kitas kämpfen ums Überleben, jedes Jahr müssen einige von ihnen schliessen. Der Markt ist starken Veränderungen unterworfen – das System ist seitens Bund und Kanton unterfinanziert, der Druck gross, dass Kitas für Eltern bezahlbar bleiben und die Arbeitsbedingungen gut sind.

BärnerBär: Seit Einführung der Betreuungsgutscheine wurde das Angebot klar erweitert, lange Wartelisten sind passé.
Ursina Anderegg: Richtig, einen Zugang zu Kitas zu finden, wurde deutlich einfacher. Das System des freien Markts hat allerdings zu einer Konkurrenzsituation geführt: Mancherorts gibt es eine Über-, andernorts, wie im Westen Berns, eine Unterversorgung.
Dazu ist die Nachfrage nach Kita-Plätzen seit der Pandemie eingebrochen. Die Stadt fungiert in einer Doppelrolle: Wir sind für eine funktionierende Kita-Versorgung zuständig, gleichzeitig befinden wir uns mit den eigenen Kitas im Wettbewerb mit privaten Anbietern.
BärnerBär: Setzen Sie sich eher für private oder für öffentliche Kitas ein?
Ursina Anderegg: Für alle. Öffentliche Kitas finde ich wichtig, weil sie den Service public garantieren und für private Einrichtungen in die Bresche springen können.
Die Situation im Westen Berns beweist, wie schwierig es für private Kitas an manchen Orten ist, rentabel zu wirtschaften. Mit städtischen Kitas können wir solche Lücken füllen, aber das kostet etwas.
BärnerBär: Themawechsel: Tut die Stadt genug gegen Antisemitismus?
Ursina Anderegg: Seit der erneuten Eskalation im Nahen Osten erleben wir eine alarmierende Zunahme von Vorfällen. Deswegen hat der Stadtrat zur Bekämpfung von Rassismus in allen Ausprägungen jetzt mehr Budget gesprochen. Zurzeit erarbeiten wir den neuen Schwerpunkteplan «Migration und Rassismus», in dem auch konkrete Massnahmen gegen Antisemitismus enthalten sein werden.
BärnerBär: Wie blicken Sie persönlich auf den Konflikt?
Ursina Anderegg: Das Wort «fassungslos» trifft es wohl am besten. Ein schrecklicher Krieg und die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal. Wir müssen Gewalt und Kriegsverbrechen in alle Richtungen verurteilen und benennen – das bedingt, dass wir die Debatten hier bei uns ebenfalls deeskalieren.