Wie in Lissabon: Darum gaffen viele lieber statt zu helfen
Tragödien lieber filmen, statt zu helfen: Im Netz kursieren zunehmend sogenannte Gaffer-Videos. Experten klären auf, wieso man dabei das Handy zückt.

Das Wichtigste in Kürze
- Vor zwei Wochen entgleiste in Lissabon eine Standseilbahn.
- Seither kursieren, wie auch bei vielen anderen Tragödien, Gaffer-Videos im Netz.
- Experten klären auf, warum viele lieber filmen, statt zu helfen.
Vor zwei Wochen entgleiste die historische Standseilbahn «Elevador da Gloria» in Lissabon.
Eine der berühmtesten Attraktionen der portugiesischen Hauptstadt ist zur Todesfalle geworden. 21 Menschen wurden dabei verletzt, 16 Menschen starben.
Der Vorfall hat sich auch im Netz rasant verbreitet. Zahlreiche Videos kursieren und zeigen die verheerende Unfallstelle auf Social Media.
Gegafft wird überall
So auch auf X. In einem Video des Nutzers «JosePererira_ME» sind Menschen zu sehen, die zur Unfallstelle eilen. Das Bildmaterial wurde kurz nach dem Ereignis aufgenommen — die Strassen sind staubig, Schreie sind zu hören.
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Das Video erreichte eine enorme mediale Reichweite. Auch in den Kommentaren wird über das Unglück diskutiert.
Doch nicht alle haben etwas Nettes zu sagen. Dass die filmende Person offensichtlich keine Anstalten macht, erste Hilfe zu leisten, verärgert die X-Community.
«Grossartig zu sehen, dass Menschen zur Hilfe eilen. Schlimm, dass Menschen nur filmen. Schäm dich», schimpft ein Nutzer.
«Und alle filmen. Aber wäre ein Bekannter betroffen, würde man sich an den filmenden Personen stören», schreibt eine andere Nutzerin.
Die Kommentierenden zeigen sich schockiert: «Alle filmen und verbreiten den Tod einer Person. Und dafür gibt es Likes.»
Schuld ist der «Bystander-Effekt»
In der Sozialpsychologie spreche man vom Bystander- oder Zuschauer-Effekt, sagt Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie zu Nau.ch.
Die Wahrscheinlichkeit der Hilfeleistung nehme mit der zunehmenden Menge an Anwesenden und Zeugen ab. «Es kommt zur Verantwortungsdiffusion», sagt Süss.
Man gehe davon aus, dass andere Leute besser helfen können. «Ist man allein Zeuge einer Notsituation und wird um Hilfe gebeten, dann wird man viel eher aktiv eingreifen.»

Aber: Nicht nur der Bystander-Effekt ist für das Unterlassen der Hilfeleistung verantwortlich. Soziale Netzwerke machen das Gaffer-Verhalten sichtbarer.
«Sie multiplizieren die Situation durch die Verbreitung», so der Experte. «Auch wer nicht vor Ort war, kann die passive Zuschauerrolle einnehmen.»
Ausserdem würden die Algorithmen emotionalisierende Inhalte bevorzugen, weil dadurch mehr User-Engagement produziert werden könne. Das wiederum diene dem Geschäftsmodell von Social Media.
Deshalb zückt man das Handy
Es sei aber auch ein gesellschaftlicher Aspekt und eine gewohnte Reaktion auf schockierende Momente, meint Pascal Streule. Er ist Experte für Medienpsychologie an der ZHAW.
«Das Bedürfnis nach sozialem Anschluss mit neuem «Gesprächsstoff» ist da bestimmt ein grosser Faktor», sagt er gegenüber Nau.ch. Es sei vergleichbar mit der Reaktion auf die Sichtung eines seltenen Tieres in der Natur.

Aufmerksamkeit und Reichweite würden eine grosse Rolle spielen, wenn man solche Videos teile. Es falle den meisten Personen schwer, nicht zumindest einen kurzen Moment daran hängenzubleiben.
Es ist also auch der Wunsch nach Bekanntheit, der in das Gaffer-Verhalten einfliesst. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Nutzer auf Social Media einiges an Reichweite und Aufmerksamkeit generieren sei höher als mit «harmloseren Beiträgen».
Gaffen kann strafbar sein
Mit Gaffen kann man sich, gemäss Art. 128 StGB, auf zwei Arten strafbar machen, weiss Martino Mona, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie.
«Erstens, wenn man einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl die Hilfe zugemutet werden könnte. Man muss sich dabei nicht selbst in Gefahr bringen. Es reicht meistens schon, dass man die Rettungskräfte alarmiert.»
Man dürfe sich nicht darauf verlassen, dass andere das tun werden. Ausserdem könne jede Person bestraft werden, die durch das Gaffen und Filmen Nothilfe behindert.

Dass Menschen schauen wollen, wenn ein Unfall passiert ist, sei normal. Problematisch sei es, wenn man nur rumstehe und filme – und dabei sogar die Rettungskräfte behindert.
«Das Handy sollte man in solchen Fällen nur zum Alarmieren der Rettungskräfte verwenden.»
Es bestehe jedoch so oder so gesetzlicher Nachholbedarf, so Mona. «Das heutige Gesetz ist unzulänglich, weil Nothilfe nur dann geleistet werden muss, wenn ein anderer Mensch in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt.»
Man ist also nicht verpflichtet zu helfen, indem man etwa die Polizei ruft. Weder wenn jemand schwer verletzt ist, aber nicht in Lebensgefahr schwebt, noch wenn jemand entführt oder vergewaltigt wird.