«Wer hat das zugelassen?» – Wut nach Missbrauchsurteil gegen Arzt
Ein französischer Klinikarzt, verurteilt für den Missbrauch von 299 Kindern, hinterlässt Fragen und Wut. Für viele Opfer ist der Leidensweg nicht zu Ende.

Für viele der 299 Opfer, die ein Klinikarzt in Frankreich oft bereits vor Jahrzehnten im Kindesalter sexuell missbraucht hat, ist der Leidensweg mit der Verurteilung des Mediziners nicht zu Ende.
Zwar verhängt das Gericht im bretonischen Vannes nach einem Prozess, der ganz Frankreich erschüttert hat, mit 20 Jahren Haft die Höchststrafe gegen den pensionierten Chirurgen Joël Le Scouarnec (74). Die Aufarbeitung der psychischen Schäden durch den Missbrauch aber dauert für etliche Betroffene an.
Ausserdem fehlt ihnen eine nachvollziehbare Erklärung der Gesundheitsbehörden, weshalb diese den Arzt trotz Hinweisen nicht viel früher stoppten. «Wie viele weitere Le Scouarnec wurden von der Ärztekammer geschützt?», heisst es auf einem Banner von Demonstranten vor der Verkündung des Urteils in Vannes. «Wer hat das zugelassen?», steht auf einem anderen Schild von Opfervertretern.
FBI-Hinweis ignoriert
Die Empörung ist verständlich, denn einen ersten Hinweis wegen des Besitzes kinderpornografischer Abbildungen durch den Mediziner gibt es bereits 2004 vom FBI. Ein Jahr später führt dies zwar zur Verurteilung des Arztes zu einer Bewährungsstrafe – und einzelne seiner Kollegen schalten deshalb auch die Gesundheitsbehörden ein, weil sie Le Scouarnec bei der Behandlung von Kindern fehl am Platz sehen. Am Ende aber gibt es keinerlei disziplinarische Konsequenzen für den Chirurgen.
Das erschütternde Ausmass des Missbrauchs durch den Arzt wird erst 2017 durch die Anzeige einer Nachbarin offenbar, an deren sechsjähriger Tochter der Mediziner sich im Garten verging. Bei Durchsuchungen stossen die Fahnder auf rund 300'000 Fotos von Kindesmissbrauch sowie zahlreiche Tagebücher, in denen der Arzt seine jahrzehntelangen Taten voller perverser Details festhielt.
Opfer fordern Gerechtigkeit
Die leitende Ermittlerin ist seit drei Jahren krankgeschrieben. In der Urteilsbegründung betont die Vorsitzende Richterin die Gefährlichkeit des Chirurgen und geht auch auf die Forderung von Opfern ein, dass der Arzt nie mehr das Gefängnis verlassen sollte. Die Höchststrafe für Sexualstraftaten betrage in Frankreich 20 Jahre Haft, sagt sie.
Mit dem späten Eingeständnis der Ärztekammer geben sich viele Opfer längst nicht mehr zufrieden und fordern Konsequenzen. Eine Opfergruppe meint in einem Schreiben an das Gesundheits- und Justizministerium: «Es ist nicht nur der Fall eines Mannes»: «Es ist eine Kette von institutionellem Versagen».
Reformen gefordert
Die Opfer beklagen, dass sich trotz dieses wohl grössten Prozesses um Kindesmissbrauch in Frankreich «nichts bewegt». Weder gebe es eine «Strukturreform», noch eine «nationale Mobilisierung», noch ein «starkes Signal». In den Gesundheitseinrichtungen habe sich nichts geändert.
Die Opfergruppe fordert die Einrichtung einer Sonderkommission, um Lehren aus dem Fall zu ziehen und die Prävention von Kindesmissbrauch zu verbessern. Am Tag des Urteils kündigt Frankreichs Gesundheitsminister Yannick Neuder Schritte in diese Richtung an.