Eine deutsche Kapitänin bringt 40 Migranten unerlaubt nach Italien. Ist sie kriminell oder beispiellos menschlich? Der jüngste Einsatz von Sea-Watch scheint niemanden kalt zu lassen. Nun schaltet sich auch Bundespräsident Steinmeier mit deutlichen Worten ein.
Italiens Innenminister Matteo Salvini vor einer Monitorwand mit dem Bild der «Sea Watch 3»-Kapitänin. Foto: Carlo Cozzoli/LaPresse via ZUMA Press
Italiens Innenminister Matteo Salvini vor einer Monitorwand mit dem Bild der «Sea Watch 3»-Kapitänin. Foto: Carlo Cozzoli/LaPresse via ZUMA Press - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Italien wegen der Festnahme der deutschen Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete kritisiert.

Im Sommerinterview des ZDF stellte er das Vorgehen der Regierung in Rom gegen die Seenotretter in Frage.

Mit einem beispiellosen Manöver hatte die deutsche Hilfsorganisation Sea-Watch zuvor die offene Konfrontation mit Italien gewagt. Trotz eines Verbots steuerte die 31-jährige Kapitänin ihr Rettungsschiff mit im Mittelmeer geretteten Migranten in der Nacht zum Samstag in den Hafen der sizilianischen Insel Lampedusa. Sie wurde festgenommen. Auf Rackete kommt eine Geldstrafe zu, im schlimmsten Fall Haft.

Es könne ja sein, dass es italienische Rechtsvorschriften gebe, wann ein Schiff einen Hafen anlaufen dürfe, sagte Steinmeier laut einem Bericht von zdf.de. «Nur: Italien ist nicht irgendein Staat. Italien ist inmitten der Europäischen Union, ist Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht.»

Insgesamt reichten die Reaktionen von Solidarität bis schierer Empörung. Der italienische Innenminister Matteo Salvini erhob schwerste Vorwürfe gegen Rackete. In Vergessenheit geriet in der Aufregung fast, dass die Migranten nach mehr als zwei Wochen auf dem Mittelmeer an Land gehen konnten.

Denn die Odyssee der «Sea-Watch 3» hatte am 12. Juni mit der Rettung von insgesamt 53 Bootsflüchtlingen vor Libyen begonnen. Wenige Stunden zuvor hatte die Regierung in Rom sich auf eine drastische Verschärfung der Regeln für die Helfer verständigt. Sea-Watch liess sich nicht davon abhalten und fuhr mit den Geretteten in Richtung Italien. Nach tagelangem Warten an der Seegrenze sah sich die Kapitänin gezwungen, die «Sea-Watch 3» auf Lampedusa zuzusteuern und schliesslich in den Hafen zu fahren. Dort touchierte sie auch noch ein Boot der Finanzpolizei. Nach italienischen Medienberichten soll sich Rackete dafür bereits entschuldigt haben.

Für Innenminister Salvini ist die Aktion der Beweis, dass die Seenotretter «Kriminelle» seien. Er verteidigte die «Linie der Strenge» seiner Regierung und sagte mit Blick auf die Helfer: «Sie haben die Maske abgelegt: Das sind Verbrecher.»

Bundesaussenminister Heiko Maas (SPD) schaltete sich am Samstag via Twitter ein: «Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist an der italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären.» Menschenleben zu retten, sei eine humanitäre Verpflichtung.

Die Bundesregierung dringt nach den Worten von Innenminister Horst Seehofer (CSU) auf eine «gemeinsame europäische Lösung» zur Aufnahme der 40 Bootsflüchtlinge. Er sei zuversichtlich, dass die EU-Kommission auch im aktuellen Fall schnell eine Lösung aushandeln werde. «Wir sind hier auf einem guten Weg», sagte Seehofer den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Eine nachhaltige Lösung sollte in einer Reform des europäischen Asylsystems liegen. «Es ist sehr klar, dass wir so nicht weitermachen können», sagte auch EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos.

Aus Deutschland erreichte die Kapitänin eine Welle der Solidarität. Die Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf riefen zu Spenden für die Seenotretter auf. Das wirkte: Bis Sonntagnachmittag kam bereits mehr als eine halbe Million Euro zusammen. «Mit den Ereignissen der letzten Tage hat diese unmenschliche, kaltblütige und skrupellose Politik einen neuen Tiefpunkt erreicht», sagte Böhmermann. Der Youtuber Rezo unterstützte die Aktion und nannte es «abgefuckt», dass Rackete verhaftet wurde.

Am Sonntag meldete sich sogar Siemens-Chef Joe Kaeser zu Wort. «Menschen, die Leben retten, sollten nicht festgenommen werden. Menschen, die töten, die Hass und Leid säen und fördern, sollten es», twitterte er. Kaeser ist bekannt dafür, sich als einer der wenigen Top-Manager immer wieder auch zu politischen Vorgängen zu äussern.

«Der eigentliche Skandal ist das Ertrinken im Mittelmeer, sind die fehlenden legalen Fluchtwege und ein fehlender Verteilmechanismus in Europa», sagte Grünen-Chef Robert Habeck dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Europaabgeordnete der Linken, Özlem Demirel, erklärte: «Carola Rackete gehört nicht hinter Gitter, sondern verdient einen Orden für ihre Courage und Menschlichkeit.» Der Parteivorstand der Linken forderte die Bundesregierung auf, die Geretteten in Deutschland aufzunehmen. Deutschland hatte sich wie mehrere andere EU-Staaten dazu bereits bereiterklärt.

Menschenleben müssten auf jeden Fall und egal auf welche Weise gerettet werden, sagte auch Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin laut Vatican News. Dies müsse «der Polarstern sein, der uns leitet, alles andere ist zweitrangig». Parolin wird auch als Aussenminister des Papstes bezeichnet.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, nannte Racketes Festnahme «eine Schande für Europa». «Eine junge Frau wird in einem europäischen Land verhaftet, weil sie Menschenleben gerettet hat und die geretteten Menschen sicher an Land bringen will», erklärte der Landesbischof. Dies mache ihn traurig und zornig.

Der aussenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, hält die Festnahme Racketes hingegen für gerechtfertigt. «Sie wird trotz edler Motive für diese illegale Aktion die Verantwortung übernehmen müssen», sagte Djir-Sarai der «Welt». Der AfD-Aussenpolitiker Petr Bystron sagte der Zeitung: Rackete «ist eine gewöhnliche Kriminelle, bei der jedoch von linken Kreisen in Deutschland versucht wird, sie zu einer Heldin hochzustilisieren».

Wie es langfristig für Sea-Watch weitergeht, ist unklar. Vorerst verliert die Organisation ihr Rettungsschiff - nicht das erste Mal. Am Samstag wurde es aus dem Hafen von Lampedusa gefahren und sollte dem Innenminister zufolge in einen anderen Hafen gebracht werden. Der Kapitänin, die nun Star und Feindbild zugleich ist, drohen mehrere Anklagen, unter anderem wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Verletzung des Seerechts.

Ihrem Vater Ekkehart zufolge ist Rackete aber «lustig und guter Dinge», sagte der 73-Jährige dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Montag). «Sie steht unter Hausarrest in Lampedusa und ist bei einer sehr netten Dame untergebracht, die sich rührend um sie kümmert.» Spätestens Dienstag wird ihre Vernehmung und eine mögliche Bestätigung des Haftbefehls erwartet. Ekkehart Rackete rechnet damit, dass seine Tochter gegen Auflage oder Kaution bis zu einem möglichen Prozessbeginn freikommt.

Die Seenotrettung sorgt seit langem für Streit innerhalb der Europäischen Union. Die EU-Länder können sich nicht auf einen Mechanismus zur Verteilung der Bootsflüchtlinge einigen. Eine Lösung ist trotz des erheblichen Drucks, den die populistische Regierung in Rom seit einem Jahr in der Frage ausübt, nicht zu erkennen.

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