Vielen Mädchen und Jungen machen derzeit Atemwegsinfekte zu schaffen. Für Babys kann insbesondere der Erreger RSV gefährlich werden – doch dutzende Kliniken können keine kleinen Patienten mehr aufnehmen.
Ein am Respiratorischen Synzytial-Virus (RS-Virus oder RSV) erkranktes Kind im Klinkum Stuttgart .
Ein am Respiratorischen Synzytial-Virus (RS-Virus oder RSV) erkranktes Kind im Klinkum Stuttgart . - Marijan Murat/dpa
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Das Wichtigste in Kürze

  • Überbelegte Patientenzimmer, tagelanger Aufenthalt in der Notaufnahme, Verlegung von kranken Babys in mehr als 100 Kilometer entfernte Krankenhäuser: Die aktuelle Welle von Atemwegsinfekten bringt Kinderkliniken in Deutschland an ihre Grenzen.

Von einer «katastrophalen Lage» auf den Kinder-Intensivstationen spricht die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi).

Wenn ein gerade reanimierter Säugling in einer eigentlich voll belegte Kinderklinik aufgenommen werde, müsse dort ein Dreijähriger den dritten Tag in Folge auf seine dringend notwendige Herzoperation warten.

Immer weniger Kinderklinik-Betten

Die Ärztevereinigung will heute in Hamburg neueste Zahlen und Erkenntnisse aus einer aktuellen Umfrage unter Kinderkliniken vorstellen. Den Medizinern zufolge ist jedes Jahr ab Herbst mit einer Welle von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV) zu rechnen. Allerdings stehen insgesamt immer weniger Kinderklinik-Betten zur Verfügung, wie Divi-Generalsekretär Florian Hoffmann gestern im ZDF-«Morgenmagazin» erläuterte. Wegen des Mangels an Pflegepersonal könne zudem ein grosser Teil der Betten auf den Stationen gar nicht betrieben werden.

Weil alle Betten voll waren, wurde zum Beispiel aus der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) in der Nacht zu Freitag ein Kind nach Magdeburg verlegt, Entfernung rund 150 Kilometer. «Meine Kollegen hatten 21 Kliniken angerufen», berichtet Gesine Hansen, Ärztliche Direktorin der MHH-Klinik für Pädiatrische Pneumologie, Allergologie und Neonatologie. Das etwa einjährige Kind hatte eine RSV-Infektion, die vor allem für die Jüngsten und Kinder mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich werden kann.

Es würden aber keine Kinder in einem sehr schlechten Gesundheitszustand verlegt, betont Hansen. Dann müsse ein Kind, dem es besser geht, an seiner Stelle verlegt werden.

Kaum eine Klinik hatte laut Divi in den vergangenen Tagen noch ein freies Kinderbett oder freies Kinderintensivbett. «Kinder müssen über Tage in der Notaufnahme liegen», beschreibt es Hoffmann. Oder Stationen müssten überbelegt werden.

Kinderklinik-Leiter: «Wir sind an der Belastungsgrenze»

Dabei sei der Höhepunkt der aktuellen Welle von Atemwegsinfektionen bei Kindern noch längst nicht erreicht, sagte Hoffmann den Zeitungen der Funke Mediengruppe. «Die Lage in Praxen und Kliniken wird in den kommenden Wochen noch schlimmer werden.»

«Wir sind an der Belastungsgrenze», sagt Matthias Keller, Leiter der Kinderklinik Dritter Orden Passau bereits jetzt. Die Zimmer seien oft doppelt belegt. Es fehlten zum Teil Monitore zur Überwachung der Kinder sowie Geräte für die Atemunterstützung. «Manche Patientenzimmer sind wie Bettenlager, da muss man wirklich über die Betten krabbeln, um zum kranken Kind zu kommen, weil sich Elternbett an Patientenbett reiht», sagt Keller, der auch Vorsitzender der süddeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ist.

Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) kommen weltweit geschätzte 5,6 schwere Fälle von RSV-Atemwegserkrankungen pro 1000 Kinder im ersten Lebensjahr vor. Innerhalb des ersten Lebensjahres hätten normalerweise 50 bis 70 Prozent und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres nahezu alle Kinder mindestens eine Infektion mit RSV durchgemacht. Im Zuge der Corona-Schutzmassnahmen waren viele solche Infektionen allerdings zeitweise ausgeblieben. Sind die Krankenhäuser jetzt am Limit, weil Mädchen und Jungen in der Corona-Zeit wenige Kontakte hatten und jetzt Infektionen nachholen?

Sprecher: «Das hat die Politik zu verantworten»

Die Kindermediziner sehen nicht die Pandemie als primäre Verursacherin der teils dramatischen Situation in den Kliniken. «Dass Kinderleben im Moment in Gefahr sind, das hat die Politik zu verantworten», meint Jakob Maske, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Früher seien ganz andere Wirtschaftlichkeitskriterien an die Pädiatrie, also Kinderheilkunde, gestellt worden. «Jetzt muss Medizin profitabel sein, nicht Krankheiten heilen, sondern Geld bringen.»

Sechs bis acht Wochen dauert eine Infektionswelle üblicherweise. Nicht nur in Bayern, Niedersachsen und Berlin, auch in Nordrhein-Westfalen berichten Kliniken von einer «maximal angespannten Lage». So erlebt die Düsseldorfer Universitätsklinik bei ihren jungen Patientinnen und Patienten neben der RSV-Welle auch eine Grippewelle, die «vornehmlich den Kindern bis ins Grundschulalter massiv zu schaffen macht», sagte Uniklinik-Sprecher Tobias Pott.

Familien «campieren» in der Notaufnahme

Im Rheinland seien phasenweise «alle Betten komplett voll», sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Jörg Dötsch. Sechs bis sieben Stunden Wartezeit in der Notaufnahme seien keine Seltenheit. «Es ist sehr unangenehm, wenn Kinder und ihre Familien in der Notaufnahme quasi campieren müssen», sagt Dötsch, der auch Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln ist. Von einer Katastrophenmedizin will Dötsch aber nicht sprechen: «Wir müssen nicht über Leben und Tod entscheiden.»

Bei der Tagung ihrer Fachgesellschaft in Hamburg beraten die Intensivmediziner und Intensivpflegekräfte auch über Lösungsansätze in der Krise. Kurzfristig können laut Divi-Generalsekretär Hoffmann Notfallpläne helfen. Das Kinderkrankenhaus Auf der Bult in Hannover zum Beispiel hat bereits eine Task Force einberufen.

Möglicherweise könne auch Pflegepersonal von der Erwachsenenmedizin temporär in die Kinderkliniken geholt werden, sagt Hoffmann, der auch Oberarzt am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Universität München ist. Vor allem müsse aber viel mehr Personal für die Kinderpflege ausgebildet werden. «Wir müssen Pflege stärken. Nur wenn wir das machen, haben wir eine Chance.»

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