Expertin warnt: Leute haben falsches Bild von Vergewaltigern
Das Wichtigste in Kürze
- Ein Mann betäubte seine Frau und liess sie über Jahre vergewaltigen.
- Beobachterinnen des Prozesses in Frankreich schockiert, wie normal die Täter sind.
- Viele haben ein falsches Bild von Vergewaltigern. Das ist gefährlich, warnt eine Expertin.
Die Geschichte von Gisèle Pelicot sorgt international für Erschütterung: Ihr Mann hat die Französin über Jahre immer wieder betäubt und vergewaltigen lassen. Über 80 Männer haben sie so missbraucht.
Aktuell ist der Fall vor Gericht. Neben Pelicots heutigem Ex-Mann sind unfassbare 51 Männer angeklagt. Was viele Beobachterinnen des Verfahrens zusätzlich schockiert: Bei ihnen handelt es sich um scheinbar gewöhnliche, gut in die Gesellschaft integrierte Männer.
Einer von ihnen wurde vor Gericht gar explizit als «aufrecht und ehrlich, als liebevoller Ehemann und Vater» beschrieben.
«Nette Kerle»
Eine Beobachterin, die den Prozess verfolgt, sagte der «Daily Mail»: «Es zerschlägt den Mythos, dass Vergewaltiger Monster sind, die in einer anderen Welt leben. Die Täter sind ‹nette Kerle›, die hier unter uns leben.»
Tatsächlich halten sich bis heute zahlreiche Mythen rund um Vergewaltigungen und Täter. «Auch in der Schweiz», wie Anna-Béatrice Schmaltz zu Nau.ch sagt. Sie ist Leiterin der Präventionskampagne «16 Tage Gewalt an Frauen» und arbeitet für Frieda – die feministische Friedensorganisation.
Einer davon: «Ein weit verbreitetes Bild von sexuellen Übergriffen ist, dass die Opfer in der Nacht von einem wildfremden Täter angegriffen werden. Dies ist aber häufig nicht so. Weit mehr als die Hälfte sexualisierter Gewalt wird im Bekanntenkreis verübt.»
Bei Vergewaltigungen sind es in der Schweiz 44 Prozent, wie die Kriminalstatistik zeigt. Laut der Gewalt-Expertin sind Täter oft Partner, Ex-Partner oder Familienmitglieder.
Umfeld glaubt Opfern wegen falschen Bildern weniger
Solche falschen Bilder sind gefährlich, warnt Schmaltz. «Der Mythos des fremden Täters führt dazu, dass Frauen, die im eigenen Umfeld sexualisierte Gewalt erleben, weniger geglaubt wird.»
Heisst: Weil sich viele Leute Tat und Täter anders vorstellen, halten sie solche Übergriffe nicht für sexualisierte Gewalt. Umgekehrt würden dadurch Betroffene selbst weniger erkennen, was ihnen angetan wurde.
Ein weiterer verbreiteter Vergewaltigungsmythos ist laut Schmaltz der Glaube, Männer könnten sich nicht beherrschen. «Es wird teilweise angenommen, der Mann sei seinen Trieben ausgeliefert und könne folglich nichts für den Übergriff.»
Dieser Mythos «ist fatal», sagt die Expertin. «Er führt dazu, dass dem Täter die Verantwortung für den Übergriff abgenommen wird. Und dieses Männerbild ist äusserst schädlich, besonders auch für Männer selbst.»
Angst vor Falschanschuldigungen hält sich
Dann gibt es noch das Phänomen Opfer-Täter-Umkehr. Das zeigt sich etwa, wenn die Betroffene nach einem Übergriff gefragt wird: «Was hast du angehabt? Wo warst du? Hast du klar nein gesagt?»
Schmaltz erklärt: «Diese Fragen implizieren, dass das Opfer selbst Schuld trägt an der erlittenen Gewalt. Schuld ist aber immer die Tatperson!» Schmaltz erinnert zudem daran, dass sich viele Opfer gar nicht wehren können – wegen der Schockstarre.
Auch die Angst, Frauen erfänden Übergriffe, um Männern zu schaden, «hält sich hartnäckig». «Tatsache ist aber, dass die Anzahl von Falschanschuldigungen bei sexualisierter Gewalt bei etwa drei bis acht Prozent liegt.» Das ist nicht höher als bei anderen Delikten.
Anders als viele glauben, erhalten Frauen davon auch keine Vorteile wie Aufmerksamkeit oder Entschädigung, sagt Schmaltz. Im Gegenteil: «Häufig erleben sie öffentlichen Hass und weitere Gewalt.»
«Es geht um Machtausübung»
Mythos Nummer fünf: «Nur junge, attraktive Frauen erleben sexualisierte Gewalt.»
Auch das führt dazu, dass Personen, die nicht in dieses Schema passen, weniger geglaubt wird – darunter Männern. «Der Mythos suggeriert zudem, sexualisierte Gewalt habe etwas mit Sexualität und Anziehung zu tun. Es geht aber um Machtausübung und Gewalt.»
Kennst du eine Person, die sexualisierte Gewalt erlebt hat?
Zuletzt gibt es noch den Glauben, dass sich die betroffene Person auf eine bestimmte Art verhält. Hier gebe es widersprüchliche Vorstellungen.
«Einerseits wird erwartet, dass sie der Polizei sofort rational und distanziert das Erlebte schildern. Andererseits glaubt ihr das Justizsystem nicht, wenn sie nicht nachhaltig zerrüttet ist.»
Kriminologe sieht Genderrollen als Hauptproblem
Studien zu Bildern, die Schweizerinnen und Schweizer von Vergewaltigern haben, sind Dirk Baier nicht bekannt. Der Kriminologe glaubt aber, Vergewaltigungsmythen seien nach der Aufklärungsarbeit der letzten zehn Jahre weniger verbreitet.
Als Hauptprobleme sieht er stattdessen Geschlechterrollen, die mit Dominanz und Unterordnung verbunden sind. Und «ungleich verteilte Macht zwischen den Geschlechtern».
«Tatsächlich ist es so, dass sich Opfer zum Teil einreden, dass ein sexueller Übergriff gar nicht so schlimm war. Dass Männer sich so verhalten dürfen», sagt Baier. «Und Männer sind der Meinung, dass ihnen Frauen sexuell zur Verfügung stehen müssen.» Das stimme alles natürlich nicht.
Wichtiger als gegen falsche Vorstellungen vorzugehen, findet er es, solche Gender-Haltungen zu bekämpfen.
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Brauchst du Hilfe?
Bist du Opfer von Gewalt geworden? Die Opferhilfe hilft dir dabei, die Erfahrung zu bewältigen und informiert dich über deine Rechte und weitere Schritte: www.opferhilfe-schweiz.ch.