Das Vereinigte Königreich hat einen traurigen Rekord gebrochen: Kein europäisches Land hat mehr Todesfälle in Folge des Coronavirus. Was läuft falsch?
Boris Johnson Coronavirus
Der britische Premier Boris Johnson steckt in einer schwierigen Situation. Kritiker erheben Vorwürfe am Krisenmanagement seiner Regierung. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Am Dienstag überholte das Vereinigte Königreich Italien in der Anzahl Corona-Toter.
  • Die britische Regierung hatte lange an ihrer Durchseuchungs-Strategie festgehalten.
  • Der nationale Gesundheitsdienst zeigt nach jahrelangem Sparen deutliche Schwächen.

Grossbritannien hat einen unrühmlichen Rekord gebrochen: Mittlerweile meldet das Land über 30'000 Tote in Folge des Coronavirus. Damit hat das Vereinigte Königreich Italien überholt und liegt europaweit auf Platz eins. Auch wenn sich die Zahlen aufgrund unterschiedlicher Bedingungen nur schwer vergleichen lassen: In Grossbritannien will die Wende nicht einsetzten – die Zahl der Neuinfektionen bleibt konstant hoch.

Wie sich zeigt, hat das Vereinigte Königreich keinesfalls einfach Pech: Die prekäre Situation im ehemaligen EU-Land ist die Folge politischer Fehlentscheidungen, welche weit in die Vergangenheit zurückreichen.

Coronavirus: Durchseuchungs-Strategie ist fehlgeschlagen

Während in ganz Europa Mitte März die Alarmglocken schlugen, blieb es in Grossbritannien ruhig: Die Schweiz und zahlreiche mitteleuropäische Länder erliessen einschneidende Schutzmassnahmen und verhängten Ausgangssperren.

Währenddessen verfolgte die britische Regierung eine Durchseuchungs-Strategie: Nur eine hohe Anzahl immunisierter Personen kann die Gesellschaft effizient und nachhaltig schützen, so die grundsätzlich nachvollziehbare Theorie.

Coronavirus Italien Vereinigtes Königreich
Bergamo, 21. März: Militärtransporter transportieren Leichen aus der norditalienischen Stadt. Der lokale Friedhof war dem Ansturm aufgrund des Coronavirus nicht gewachsen. - Keystone

Als Mitte März das italienische Militär Leichen aus der Krisenregion Bergamo abtransportierte, zeigten sich die dramatischen Konsequenzen der Pandemie. Während der Bundesrat bereits den Lockdown ausgerufen hatte, reagierte man in Grossbritannien weiterhin nicht auf die steigenden Fallzahlen.

Erst am 23. März, deutlich später als in den meisten europäischen Ländern, wurde in Grossbritannien der Lockdown beschlossen. Bis dahin konnte sich das Coronavirus ungebremst ausbreiten. Die vielen Fälle zu Beginn machen es nun deutlich schwieriger, die Anzahl der Neuinfektionen zu reduzieren.

Nationales Gesundheitssystem wurde kaputt gespart

Das britische Gesundheitssystem steht aufgrund der hohen Fallzahlen an der Kapazitätsgrenze. In der Krise zeigt sich, dass der nationale Gesundheitsdienst NHS nur mangelhaft ausgebaut ist: Seit der Thatcher-Regierung der 1980er werden die Entscheidungen nach marktwirtschaftlichen Kriterien gefällt.

Grossbritannien Coronavirus
Prinz William hält zur Eröffnung des «NHS Nightingale» in London am 16. April eine Video-Ansprache.
Grossbritannien Nightingale Coronavirus
Das provisorische Krankenhaus mit 2000 Betten zur Behandlung von Covid-19-Patienten wurde im «ExCel»-Kongresszentrum eingerichtet.
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In Manchester wurde ein zweites Krankenhaus eingerichtet. Seit dem 17. April stehen insgesamt 4000 zusätzliche Betten zur Verfügung.

Das Coronavirus gehorcht den Regeln der Marktwirtschaft bekanntlich nicht. Demzufolge hat das Gesundheitssystem grosse Probleme, der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. Wie «The Guardian» berichtet, waren in Nordirland 32 der 33 «Corona-betroffenen» Medizinprodukte nicht mehr vorrätig.

Wie die «Financial Times» berichtet, hatte Grossbritannien grosse Mühe, schnell Testkapazitäten zu schaffen. Das klang vor einigen Wochen noch ganz anders: Damals hatte Jenny Harris von der britischen Gesundheitsbehörde vorgegeben, Tests seien nicht das angemessene Mittel, um die Krise einzudämmen. Erschwerend kommt hinzu, dass dem NHS seit dem Brexit die dringend benötigten ausländischen Fachkräfte davonlaufen.

Gesundheitssystem spielt in der zweiten Liga

Das Vereinigte Königreich muss sich eingestehen, dass das britische Gesundheitssystem nicht in der obersten Liga mitspielt: Den Gesundheitssystemen der Schweiz oder Deutschland gelingt der Umgang mit der Krise deutlich besser. England zeigt aktuell eine der höchsten Übersterblichkeiten: Die Anzahl Todesfälle im langjährigen Vergleich gilt als zuverlässiger Indikator für den Impakt des Coronavirus.

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Die kumulierten Fallzahlen in Italien (links) und dem Vereinigten Königreich (rechts). Während die Neuansteckungen in Italien Rückläufig sind, zeigt sich in Grossbritannien noch kein abwärtstrend. - Covid-19 Dashboard/Johns Hopkins University

Vergangenen Dienstag überholte Grossbritannien Italien in den Todeszahlen. Während die Anzahl Neuansteckungen in Italien mittlerweile rückläufig ist, bleibt sie im Vereinigten Königreich jedoch konstant. Entgegen Aussagen der britischen Regierung von vergangener Woche dürfte Grossbritannien daher noch nicht «über den Berg» sein.

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