Das neue Grundgesetz in Chile soll das Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit garantieren - radikale Töne in der einstigen Wiege des Neoliberalismus. Konservative laufen Sturm gegen die progressive Magna Charta.
Ein Demonstrant demonstriert in Santiago für die vorgeschlagene neue Verfassung.
Ein Demonstrant demonstriert in Santiago für die vorgeschlagene neue Verfassung. - Cristobal Escobar/AP/dpa
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Das Wichtigste in Kürze

  • Chile steht vor einem tiefgreifenden Wandel.

Einst machten die neoliberalen Chicago-Boys das südamerikanische Land zu ihrem Experimentierfeld, jetzt könnte Chile die progressivste, sozialste und ökologischste Verfassung der Welt bekommen. Ein Jahr lang brütete eine Verfassungsgebende Versammlung über dem Grundgesetz, am Sonntag stimmen die Chilenen über die 388 Artikel der neuen Verfassung ab.

«Es war nicht einfach», sagte Präsident Gabriel Boric, als er den Verfassungsentwurf entgegennahm. «Denn die Demokratie ist nie einfach.» Tatsächlich hat die neue Verfassung die chilenische Gesellschaft tief gespalten. Während die Befürworter sich mehr Gerechtigkeit, Teilhabe und Demokratie erhoffen, schüren die Gegner Ängste vor einem Abgleiten in den Sozialismus.

Die aktuelle Verfassung von 1980 stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet. Die Aufgaben des Staates sind auf ein Minimum reduziert, das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert. Zwar hat Chile das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, die Armut konnte in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt werden. Das Land mit rund 19 Millionen Einwohnern leidet auch unter grosser sozialer Ungleichheit. «Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein», versprach Präsident Boric, der selbst als Teil der Proteste 2019 der damaligen konservativen Regierung die Ausarbeitung einer neuen Magna Charta erst abtrotzte.

Grundlegende Veränderung nicht ausgeschlossen

Die neue Verfassung könnte Chile nun grundlegend verändern. Beispielsweise sollen die Bürger künftig ein Recht auf Wohnraum haben. Der Staat könnte damit in den sozialen Wohnungsbau einsteigen und den Armen Wohnungen zur Verfügung stellen. Zudem soll allen der Zugang zu höherer Bildung ermöglicht sowie ein staatliches Rentensystem und eine gesetzliche Krankenversicherung aufgebaut werden.

Ausserdem hätten Frauen künftig Anspruch auf die Hälfte aller Posten in staatlichen Organen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene. In dem konservativen Land besonders umstritten: Die neue Verfassung garantiert ein Recht auf Abtreibung. Derzeit sind Schwangerschaftsabbrüche nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Erstmals wird Chile zudem als plurinationaler Staat definiert und den Indigenen - die immerhin rund zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen - ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt.

Auch im Bereich des Umweltschutzes nimmt die neue Verfassung den Staat in die Pflicht. So wird eine besondere Sorgfaltspflicht gegenüber den Ökosystemen wie Gletschern und Meeren festgeschrieben. Wasser wird sogar als Gemeinschaftsgut definiert. Derzeit ist das Wasser in Chile privatisiert. So können Grundbesitzer und Unternehmen aus ihren Brunnen praktisch unbegrenzt Wasser abpumpen, während in den Armenvierteln teilweise kein sauberes Wasser aus dem Hahn kommt.

In Umfragen hat sich ein Stimmungswandel vollzogen

«Es geht also nicht nur um die zu schützende Umwelt, sondern auch um den Erhalt der Grundlagen allen menschlichen und nicht-menschlichen Lebens», sagt der Wiener Politikwissenschaftler Ulrich Brand. «Gemeingüter wie Wasser und Luft sollen besonders geschützt werden, die Privatisierung von Wasser wird ausgeschlossen. Ernährungssouveränität und der Schutz von traditionellem Saatgut werden zu wichtigen Staatszielen erklärt. Und wer die Natur zerstört, muss sie reparieren.»

Es ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass die Verfassung tatsächlich angenommen wird. Vor zwei Jahren stimmten noch fast 80 Prozent der Chilenen für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Jetzt sieht es ganz anders aus: In den jüngsten Umfragen unterstützten nur etwa 37 Prozent der Wähler den Verfassungsentwurf, rund 47 Prozent lehnten ihn ab. Über 15 Prozent waren unentschieden.

Im strukturell konservativen Chile halten viele den Entwurf für eine linke Utopie, die den wirtschaftlichen Erfolg des Landes gefährden könnte. Die rechte Opposition und konservative Interessensgruppen stemmen sich mit aller Macht gegen das neue Grundgesetz. Dabei schrecken sie auch vor Fake News nicht zurück. Mal heisst es, das Recht auf privates Wohneigentum werde fallen, mal ist von Schwangerschaftsabbrüchen bis in den 9. Monat die Rede. Beides stimmt nicht, ist aber geeignet, Ängste zu schüren.

Während sich die Begeisterung für die neue Verfassung in Chile in Grenzen hält, erhoffen sich linke Politiker, Aktivisten und Wissenschaftler eine Signalwirkung für die ganze Welt. «Wir glauben, dass die neue Verfassung einen neuen globalen Standard für die Bewältigung der Krisen des Klimawandels und der wirtschaftlichen Unsicherheit sowie für nachhaltige Entwicklung setzt», heisst es in einer gemeinsamen Erklärung von 40 internationalen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, darunter dem renommierten französischen Ökonomen Thomas Piketty.

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