«Für dein veganes Schnitzel stirbt ein unschuldiger Broccoli»
«Pflanzen haben auch Gefühle!», heisst es oft im Streitgespräch. Sind Veganer also gefühllose Pflanzenmörder? Eine Kolumne von Mirjam Walser.

Das Wichtigste in Kürze
- Dass auch Pflanzen für vegane Produkte leiden müssten, ist immer wieder zu hören.
- Begründet wird es damit, dass Pflanzen angeblich Gefühle haben.
- Ist die vegane Ernährung also moralisch fragwürdig, weil dabei unzählige Pflanzen sterben?
Mein Sitznachbar im Restaurant schaut interessiert auf meinen Teller. Da liegen ein saftiges Gemüseschnitzel mit Currysauce und Reis. Ganz anders bei ihm. Da thront ein riesiges Steak. «Bist du Vegan?», fragt er. Und gleich danach: «Warum?»
Keine fünf Minuten später fällt der Satz, den ich schon unzählige Male gehört habe: «Aber Pflanzen haben auch Gefühle! Und: Für dein Schnitzel mussten Pflanzen sterben.»
Haben Menschen, die sich Vegan ernähren, also Millionen von unschuldigen Pflanzen auf dem Gewissen, nur weil sie sich vegane Schnitzel gönnen wollen?
Pflanzen sind komplex, aber sind sie auch empfindungsfähig?
Es stimmt: Pflanzen sind komplexe Lebewesen. Sie reagieren auf Licht, Temperatur, Berührung, manche sogar auf Schall.
Sie kommunizieren über chemische Signale, passen sich an ihre Umwelt an und «merken» sich gewisse Reize.

Aber all das passiert ohne Nervensystem, ohne Gehirn, ohne Bewusstsein – und genau das ist der entscheidende Punkt.
Schmerz setzt eine bewusste Wahrnehmung voraus, die Fähigkeit, etwas zu empfinden. Pflanzen reagieren, doch sie fühlen nichts. Es fehlen ihnen dafür die biologischen Voraussetzungen.
Im Gegensatz zu Pflanzen verfügen Tiere (Säugetiere inklusive Menschen, Vögel, Fische und sogar viele wirbellose Arten) über ein zentrales Nervensystem und ein Gehirn.
Sie zeigen messbare Stressreaktionen, Schmerzverhalten und Schutzreflexe.
Ihre Fähigkeit zu leiden ist biologisch belegt und ethisch anerkannt, etwa im Tierschutzgesetz.
Und wer einen Hund oder eine Katze hat, weiss ohnehin, wie sensibel sie auf Schmerz reagieren. Was für Bello und Miezi gilt, gilt auch für Schwein, Kuh oder Huhn.
Was, wenn Pflanzen doch Schmerz empfinden könnten?
Angenommen, die Forschung würde eines Tages zeigen, dass Pflanzen tatsächlich Schmerz empfinden und leiden, wenn sie aus der Erde gerissen und «getötet» werden. Wäre die Vegane Ernährung dann überhaupt noch vertretbar?

Leider muss ich enttäuschen. Auch das wäre kein Argument gegen eine pflanzliche Ernährung.
Denn Fleischesser bringen noch mehr Pflanzen um die Ecke als Veganer. Denn für tierische Produkte braucht es ein Vielfaches an pflanzlichen Ressourcen.
So werden für ein Kilo Rindfleisch je nach Produktionsweise 10 bis 12 Kilo Futterpflanzen wie Weizen, Mais oder Soja benötigt. Alles Pflanzen, die auch uns Menschen ernähren könnten.
Wer also wirklich möglichst wenige Pflanzen «töten» will, sollte sie besser direkt essen, statt sie zuerst durch den Magen eines Tieres zu schicken – mit dem Ergebnis, dass am Ende weniger Kalorien übrigbleiben, als vorne hineingingen.
Kein Argument, sondern ein Ablenkungsmanöver
Das Pflanzen-Argument taucht verlässlich dann auf, wenn die Fleischdebatte unangenehm wird.
Es geht dabei nicht ernsthaft um die Gefühle von Rüebli und Gurken, sondern um eine Rechtfertigung des eigenen Konsums.
Und wenn plötzlich alles problematisch ist – Fleisch essen, Pflanzen essen –, dann muss man nichts ändern.
Oder besser: Man kann ja sowieso nichts ändern. Also: Speisekarte auf, die veganen Moralapostel ignorieren, das Filet bestellen und das Leben geniessen.

Schön wär’s. So gut wir im Verdrängen auch sind, es bleibt dabei: Tiere leiden und sterben für unser Essen. Pflanzen hingegen kümmert das wenig.
Anstatt weiter wegzuschauen, könnten wir den Blick dorthin richten, wo Leid vermeidbar ist und wir selbst handeln können.
Und das geht am einfachsten, wenn man Dinge isst, die nicht schreien, quicken, krähen oder panisch zusammenzucken, wenn man sie zerteilt.
«Oder hast du schon mal einen Broccoli schreien hören?», habe ich den eingangs erwähnten Tischnachbarn gefragt. Darauf hatte er keine Antwort mehr.
Zur Person: Mirjam Walser (39) schreibt auf Nau.ch regelmässig zu Veganismus, Ernährung und gesellschaftlichem Wandel. Als Coach und Gründerin der Vegan Business School unterstützt sie Menschen dabei, nachhaltige Unternehmen aufzubauen.