Die Volksinitiative für ein Verhüllungsverbot hat gute Chancen, glaubt Claude Longchamp. In die Karten spielen könnte den Befürwortern die Corona-Situation.
Politologe Claude Longchamp analysiert mit Christof Vuille, stv. Chefredaktor von Nau.ch, die Abstimmung über das Verhüllungsverbot. - Nau.ch
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Das Wichtigste in Kürze

  • Am 7. März 2021 stimmt die Schweiz über die Initiative für ein Verhüllungsverbot ab.
  • Politologe Claude Longchamp analysiert für Nau.ch den Abstimmungskampf.
  • Dieser habe ihn «überrascht» so Longchamp. Viele verschiedene Akteure hätten mitgewirkt.

Bei den Abstimmungen im Parlament sah es beim Verhüllungsverbot ziemlich gewohnt aus. Im Nationalrat waren 113 VolksvertreterInnen dagegen, 77 dafür. Im Ständerat lautete das Schlussergebnis 36 zu 7.

Hauptargument war wie im Bundesrat, es bestehe kein Problemdruck, der ein verfassungsmässiges Verbot rechtfertige. Kantonale Gesetze wie etwa im Tessin seien hinreichend.

Binder-Keller Mitte Verhüllungsverbot
Nationalrätin Marianne Binder-Keller (Die Mitte/AG) ist im Frauenkomitee für das Verhüllungsverbot. - Keystone

Einzig die Mitte-Fraktion verhielt sich nicht wie sonst bei einer SVP-Initiative. In ihrer Mehrheit stimmte sie dem Anliegen zu. Hauptgrund war wohl, dass das Burka-Verbot als Antwort auf die angenommene Minarett-Initiative aus den Mitte-Reihen stammte.

Mit kleinen Abweichungen haben sich die politischen Fronten entwickelt, die man in der Schweiz aufgrund der kulturellen Konfliktlinie schon kennt. SVP ist für Abschottung nach aussen, Mitte, FDP und GLP bilden ein Mittelfeld, während SP und Grüne den offenen Pol bilden. Abschottung drückt sich im Verbot von Verhüllung aus, Offenheit in ihrer Tolerierung.

Zivilgesellschaftliche Aktivierung

Umso mehr überraschte der bisherige Abstimmungskampf zum Verhüllungsverbot. Nach wenigen Tagen mit der bekannt polarisierenden SVP-Rhetorik entwickelte sich ein zusätzlicher Widerspruch zur Behördenposition aus der Zivilgesellschaft heraus.

Sichtbare Symptome dafür waren die erste Arena-Sendung zum Thema, die starke Emotionen hervorrief und die Rechtspresse, die gegen Experten polemisierte, die den Islam analysierten, ohne ihn zu bekämpfen.

«Arena»
Die Diskussion zum Verhüllungsverbot in der Arena sorgte für laute Diskussionen. - Screenshot SRF

Aktiv im Abstimmungskampf für das Verhüllungsverbot wurde eine vielschichtige Allianz von SprecherInnen aus der liberalen Islamkritik, dem Feminismus, dem Freidenkertum und der zeitgenössischen Literatur. Engagiert waren durchwegs Personen, die es gewohnt sind, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen.

Ihre gemeinsamen Punkte: Die Verhüllung muslimischer Frauen störe, widerspreche westlichen Werten und verstosse gegen gut verankerte Sitten. Denn in einer offenen Gesellschaft wie der Schweiz gehe man in aller Regel mit freiem Gesicht aufeinander zu. Verhüllung berge Gefahr oder Unterdrückung von muslimischen Frauen.

Darüber hinaus gab es verschiedene Botschaften: Liberale Islam-KritikerInnen prangerten die Verharmlosung des Islamismus durch die Linke an. FeministInnen erinnerten, ihr Kampf sei nicht national, sondern international ausgerichtet. Und Freidenkende mischten bisweilen meist beides.

Neutrale Medien mit Pro und Contra

Eine Analyse des Fögs an der Universität Zürich kam zum Schluss, nicht die Politik, aber die Zivilgesellschaft bestimme den medialen Diskurs. Der indexierte Medientenor zum Volksbegehren ist neutral. Das ist für eine Volksinitiative vorteilhaft, denn meist dominiert von Beginn an die Kritik am Volksbegehren.

Verhüllungsverbot-Initiative Keller-Sutter
Justizministerin Karin Keller-Sutter an der Medienkonferenz zur Verhüllungsverbot-Initiative. Der Bundesrat empfiehlt ein Nein. - Keystone

Die GegnerInnen formieren sich rund um Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Chefin des zuständigen Justiz-Departements. Sichtbar unterstützt wird sie von VertreterInnen liberale und linker Parteien und FeministInnen, sowie einigen WissenschafterInnen. Hinzu kam spät auch «Operation Libero».

Es überraschte nicht wirklich, dass die ersten Umfragen zustimmende Mehrheiten unter den teilnahmewilligen Bürger und Bürgerinnen zeigten. Bei der Tamedia-Reihe lag diese gleich zweimal über 60 Prozent, bei der SRG-Serie über der Hälfte. Einen gesicherten Trend Richtung Nein gibt es nicht.

Bisweilen sah man dies als Folge eines mangelnden Engagements der GegnerInnen. Vermutet wurde aber auch, die Meinungen seien angesichts der alltagsnahen Problematik schon längerfristig gebildet gewesen.

Namentlich die zweite Umfrage Publikation von «20 Minuten» verstärkte das Gefühl eines eigentlichen Stimmungsumschwungs. Verbreitet erwartet man seither eine Annahme des Verhüllungsverbots am Abstimmungstag, dem 7. März 2021.

Funiciello Verhüllungsverbot
Tamara Funiciello, Berner SP-Nationalrätin und Co-Präsidentin der SP Frauen, lehnt die Volksinitiative «für ein Verhüllungsverbot» ab. Die Initianten spielten sich zu Unrecht als Retter der Frauen auf, kritisiert sie. (Archivbild) - Keystone

Zwischenzeitlich hat sich die politische Lage weiter geklärt. Grüne, SP, GLP, Mitte und FDP stellen sich alle gegen die Volksinitiative, während die SVP sie recht isoliert befürwortet wird. Die EVP hatte schon früh ihre Stimmfreigabe beschlossen. Selbst ihre Jungpartei reihte sich aber im Nein-Lager ein.

Früh haben auch verschiedene Zeitungen ihren redaktionellen Leitartikel publiziert: Der «Tagesanzeiger», der «Bund», die «Berner Zeitung», die» NZZ am Sonntag» und «24heures» sind gegen das Verhüllungsverbot. Dafür optierten bisher die «Basler Zeitung» und «Le Temps».

Mindestens äusserlich waren damit die politischen Fronten wieder weitgehend hergestellt, wie man sie bei Volksbegehren der SVP praktisch durchwegs sah.

Warum gerade hier und jetzt?

Man kann sich fragen, was den heftigen Kampagnenstart der befürwortenden Seite ausgelöst hat.

Für eine spezifische Themenreaktion spricht die Fragestellung. Das Verhüllungsverbot artikuliert nicht nur politische Meinungen. Es reflektiert auch persönliche Meinungen, meist aus (fehlenden) Erfahrungen mit MuslimInnen im Alltag geformt. Das erschwert es den Parteien, ihre Anhängerschaft klar mehrheitlich hinter ihre Positionen zu scharen. Prominente Abweichler verstärken den Effekt noch.

Walter Wobmann Verhüllungsverbot
Nationalrat Walter Wobmann (SVP/SO) ist Präsident des Egerkinger Komitees und Mitinitiant der Initiative für ein Verhüllungsverbot. - Keystone

Für ein verändertes Umfeld der Entscheidung spricht die Verunsicherung der Schweiz durch die Corona-Krise. Namentlich mit der zweiten Welle zerbrach die anfänglich hohe Unterstützung der behördlichen Politik in der Bevölkerung. Das Vertrauen leidet, die Polarisierung verhärtet sich. Einer weitgehend unbekannten Gruppe gelang es so, in Rekordzeit die nötigen Unterschriften für ein Referendum gegen das Covid19-Gesetz zu sammeln. Selbst ziviler Ungehorsam gegen Regime liegt in der Luft.

Man kann das Verhüllungsverbot als auch Ventil in der angespannten Situation interpretieren. Sie wurde ohne grosse Verhaltungsabsichten lanciert. Entstanden ist vielmehr ein politisches Projekt, das wie ein Vulkan explodieren kann. Das geschieht umso leichter, da sowohl ein Ja wie auch ein Nein kaum reale Folgen haben dürfte. Die Bedeutung der Abstimmung liegt vielmehr in ihrem hohen Symbolwert.

Vier Thesen als Zwischenbilanz zum Verhüllungsverbot

Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung können jetzt schon einige Thesen formuliert werden:

– Erstens, die bekannte Frontstellung alle gegen die SVP, welche die Anliegen dieser Partei in aller Regel prägt, misslang beim Kampagnenstart. Sie hat sich zwischenzeitlich jedoch wieder weitgehend eingestellt.

– Zweitens, der generelle Konflikt ist kultureller Natur, wird aber durch Einstellungen zu Sitten in der westlichen und islamischen Gesellschaft konkretisiert. Beides ist nicht ganz deckungsgleich.

– Drittens, zugunsten der Initiative wurden nicht nur rechtspopulistischen und rechtskonservative Parteien aktiviert. Engagiert haben sich namentlich auch VertreterInnen der Zivilgesellschaft.

– Viertens, die vorherrschende Kritik an der behördlichen Politiklösung hat sich mit der Verhüllungsinitiative hin zu gesellschaftskonservativen Strömungen verschoben.

Die Initianten waren im Abstimmungskampf zuerst offensiver. Zwischenzeitlich hat sich das wieder etwas ausgeglichen. Noch bleibt etwas Zeit für weitere Neuentwicklungen.

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