Schräge Familie: «Wanda, mein Wunder»
Grenzüberschreitendes Pflege-Drama mit wunderbarer Hauptdarstellerin: Gekonnt hält Regisseurin Bettina Oberli die Balance zwischen ernsten und humorigen Momenten.

Das Wichtigste in Kürze
- 9500 Schweizer Franken für drei Monate harter, vor allem körperlicher Arbeit, und das rund um die Uhr: Das ist nicht viel, zumal in der reichen und begüterten Schweiz.
Für die Polin Wanda aber ist es das notwendige Zubrot, das sie dringend braucht, um die Kinder daheim durchzubringen. Immer wieder zieht es Wanda daher zurück in die Schweiz, zurück zu Josef, dem betagten Schlaganfallpatienten. Regisseurin und Ko-Autorin Bettina Oberli («Die Herbstzeitlosen», «Tannöd») und Drehbuchautorin Cooky Ziesche («Wolke neun») berichten von einer grossbürgerlichen Familie am Rande des Zusammenbruchs. Auf der Leinwand zu sehen sind Darsteller wie Birgit Minichmayr, André Jung und Jacob Matschenz.
Wandas Einsamkeit inmitten der Familie
Ein grosses, herrschaftliches Haus. Ein alter, ein geistig noch recht fitter Mann, der Hausherr, der jedoch rund um die Uhr auf Pflege und Betreuung angewiesen ist: Wanda, die Polin, hilft ihm nicht nur beim An- und Ausziehen, sie ist quasi immer für ihn da. Geht nebenher auch noch der Dame des Hauses (von resoluter, teils atemraubender Arroganz: Marthe Keller) zur Hand. Auch Sohn Gregor lebt noch hier. Alle mögen die freundliche, die so bescheiden anmutende Frau aus Polen. Ja, es gibt sogar einen kleinen Streit zwischen Vater und Sohn: «Wanda ist für mich da!». Und doch ist Wanda irgendwie allein in dieser so wohlhabenden, dieser direkt am Zürichsee residierenden Familie, deren Miteinander nicht immer von Empathie und Herzenswärme geprägt ist.
Für Wandas Einsamkeit findet Kamerafrau Judith Kaufmann («Der Junge muss an die frische Luft») starke Bilder: Einmal sehen wir Wanda wie sie von ihrem dunklen Kellerzimmer aus den Rauch ihrer Zigarette durchs offene Fenster nach oben bläst: Ein starkes, an das Hierarchiegefälle zwischen reichen Schweizern und ärmerer Polin gemahnendes Bild. Kurz muss man an «Parasite» denken, diesen irren koreanischen Oscargewinner von 2020. Da nimmt auch Wanda die eine oder andere überraschende, wenn nicht surreale Wendung: Nicht nur, dass Wanda plötzlich schwanger ist, auch eine polnische Kuh und das Thema Adoption stehen plötzlich im, mit den Tönen des deutsch-schweizerischen Musikduos Grandbrothers kongenial gefluteten Raum - ein Blick aufs wunderbare Filmplakat, inklusive Kuh, mag Lust machen auf diese teils bitterböse Familienstory.
Von bitterböse bis sarkastisch-komisch
Man weiss es längst: Birgit Minichmayr, sie gibt die Tochter, macht sich hervorragend in filmischen Beziehungs- oder Familienaufstellungen. Man denke an «Alle Anderen» von Maren Ade, man denke an ihren Auftritt in «Kirschblüten und Dämonen» (Doris Dörrie). Auch in «Töchter» (2021) ist die Österreicherin dabei. Überraschend aber ist ihr Spiel in «Wanda» genauso wenig wie das routiniert-gekonnte Spiel ihrer Mitdarsteller. Die eigentliche Überraschung indes ist ein, zumindest für deutsche Kinoohren bisher kaum klingender Name: Agnieszka Grochowska. Das Schauspiel der Polin ist so dezent wie wirklichkeitsnah. Grochowska erdet den 110-Minüter, der zuweilen seine Bodenhaftung einzubüssen droht.
So gibt es immer wieder Momente, die man dem Film nicht unmittelbar abnimmt, die etwas neben der eigentlichen Spur zu liegen scheinen, die man eher in einer reinen Groteske vermutet. Wenn sich Bruder und Schwester streiten etwa, und das allzu manieriert, zu aufgesagt daher kommt. Sukzessive dämmert einem, das grade diese Masche zum Film gehört, zu «Wanda» passt. Einem Film, der sich eben nicht in die längst meilenlange Reihe schwermütiger deutschsprachiger Betroffenheitsdramen einreihen möchte. Aller Ironie, aller Überzeichnung, aller Exaltiertheit zum Trotz: Wer genau zuschaut, genau zuhört, für den ist der menschenfreundliche Kern dieser Geschichte stets und unzweideutig erkennbar. Ein Kern, der seine beeindruckende Gestalt findet im unprätentiösen Spiel der polnischen Hauptdarstellerin.
Wanda, mein Wunder, Schweiz 2020, 110 Min., FSK o.A., von Bettina Oberli, mit Birgit Minichmayr, Agnieszka Grochowska, André Jung