Dichterin, Übersetzerin, Philologin: Anne Carson ist vieles - und sprengt doch gleichzeitig alle Kategorien. Die Autorin hat sich ihre Welt erschaffen, Fans verehren sie. Jetzt wird die Kanadierin 70 - und will, wie sie sagt, weiter vor allem Langeweile vermeiden.
Anne Carson wird 70. Foto: Handout/Peter Smith/dpa
Anne Carson wird 70. Foto: Handout/Peter Smith/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Als Kind verehrte Anne Carson Oscar Wilde.

Sie habe genauso sein wollen wie der irische Dichter des 19. Jahrhunderts - belesen, elegant und witzig, erzählte die Autorin einmal der «New York Times».

Carson studierte also Latein und Altgriechisch und wurde so gut darin, dass sie inzwischen lehrt und übersetzt. Ausserdem wurde die Kanadierin, die an diesem Sonntag (21. Juni) 70 Jahre alt wird, Schriftstellerin und Dichterin und auch darin so herausragend, dass sie Dutzende Preise bekam. Seit Jahren wird die Autorin auch für den Literaturnobelpreis gehandelt.

Die Coronavirus-Pandemie und die weltweiten Proteste gegen Rassismus bewegten sie derzeit sehr, schrieb Carlson der Deutschen Presse-Agentur kurz vor ihrem Geburtstag per E-Mail. «Die Welt ist gerade auf gute Weise schlecht oder auf schlechte Weise gut, das ist schwer zu sagen.»

Sie lenke sich mit Videos über Kickboxen ab und denke angesichts ihres 70. Geburtstags an ein Erlebnis mit ihrem Vater zurück. «Ich erinnere mich an den Tag, an dem er 70 wurde, da hat er mich angeschaut und gesagt: 'Das ist verrückt. Innen drin bin ich fünf Jahre alt.' Und ich habe ihn angeschaut und mir gedacht: 'Dad, du bist so verwirrt.'»

Geboren wurde Carson 1950 als jüngstes von zwei Kindern in Toronto. Ihr Vater arbeitete bei verschiedenen Banken, ihre Mutter war Hausfrau, die Familie zog oft um und lebte in vielen kleineren Städten in der kanadischen Provinz Ontario. Die Faszination für Latein und Altgriechisch begann schon in der Schule, an der Universität setzte Carson ihre Studien darin fort. An der Universität von Toronto habilitierte sie sich schliesslich. Altgriechisch sei für sie die «beste Sprache», sagt Carson. «Es ist einfach sehr spezifisch. Einfach eine andere Erfahrung.»

Carson begann Altgriechisch zu übersetzen und zu lehren, an verschiedenen Universitäten, unter anderem in Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan und in New York. Nebenbei schrieb sie und brachte 1986 ihr erstes Buch heraus. «Eros the Bittersweet» ist eine Mischung aus Roman, Poesie und altphilologischer Abhandlung und machte gleich deutlich, dass Carson sich nicht in die klassischen Kategorien einordnen lässt. «Wenn Prosa ein Haus ist, dann ist die Poesie ein brennender Mann, der da relativ schnell durchrennt», sagte sie einmal dem britischen «Guardian».

Mehr als ein Dutzend weiterer Bücher hat Carson veröffentlicht - alle genauso ungewöhnlich, aber mit jedem neuen Buch erschrieb sich die Kanadierin neue enthusiastische Fans. «Autobiography of Red» wird von vielen als ihr Meisterwerk gefeiert, auf Deutsch kam das Buch vor kurzem zusammen mit dem Nachfolger «Red Doc» als «Rot. Zwei Romane in Versen» beim Verlag S. Fischer heraus. Für das Berliner Poesiefestival hielt Carson gerade eine Ansprache - aufgrund der Coronavirus-Pandemie fand das Festival online statt und Carson sprach aus ihrem Arbeitszimmer.

Kritiker feiern Carson schon lange. Der britische «Guardian» bezeichnete sie einmal als «Poesie-Guru». Die «New York Times» bejubelte vor einigen Jahren in einem grossen Porträt ihre «unergründliche Brillanz». «Sie gibt einem den Eindruck - auf ihren Seiten, bei Lesungen - als wäre sie jemand aus einer anderen Welt, entweder ausserirdisch oder antik, für den die modernen irdischen Kategorien zu künstlich und einfach sind, um so etwas wie die echte Wahrheit zu beinhalten, die sie kommunizieren will», schrieb die Zeitung. Carsons Werke hätten sich in Richtungen bewegt, «in die das menschliche Gehirn sich niemals auf natürliche Art und Weise bewegt».

Und das sei auch genau ihr Ansinnen, sagt Carson: «Ich möchte die Gehirne der Menschen bewegen, und das ist nicht etwas, was sie natürlich von selbst machen. Wir haben eine Art Schwerfälligkeit, sitzen, hören zu. Aber es ist sehr wichtig, in das Gehirn zu kommen und es irgendwohin zu bewegen, wo es noch nie war.» Für diese Arbeit wurde die Kanadierin unter anderem schon mit dem Guggenheim Fellowship, dem MacArthur Fellowship, dem Pen-Preis für Dichtung und der Ehrendoktorwürde der University of Toronto ausgezeichnet.

Seit einigen Jahren unterstützt Carsons Partner Robert Currie sie bei ihrer Arbeit. Gemeinsam bringen sie auch Performances auf die Bühne. «Meine Arbeit war mir langweilig geworden», sagt Carson. «Und er hat dann gesagt: 'Na gut, dann ergänzen wir Tänzer.' Und das haben wir gemacht.» Langeweile sei sowieso ihr grösster Feind. «Ich mache alles, um Langeweile zu vermeiden. Das ist meine Lebensaufgabe.»

Mit 70 Jahren ist Carson anerkannte Expertin für Latein und Altgriechisch und preisgekrönte Schriftstellerin und Dichterin - aber der in ihrer Kindheit verehrte Oscar Wilde bleibt das Vorbild. «Ich habe nie aufgehört, so sein zu wollen wie er. Wer könnte das aufhören? Das Ziel ist unerreicht, bis jetzt.»

© dpa-infocom, dpa:200619-99-483773/3

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