Hilary Mantels Abschied von einem genialen Strategen
Am Anfang und am Ende steht jeweils eine Hinrichtung. Dazwischen bietet Hilary Mantel rund 1000 Seiten höfische Intrigen um Macht, Religion und die Nachfolge König Heinrichs VIII. Ein Mann in England scheint alle Fäden in der Hand zu halten - bis sich das Blatt wendet.

Das Wichtigste in Kürze
- Der Roman beginnt mit dem Tod Anne Boleyns auf dem Schafott.
Die zweite Frau Heinrichs VIII., die dem englischen König seine Tochter Elizabeth schenkte, wurde wegen Ehebruchs angeklagt.
Doch ihr Tod war wohl eher dem Unglück geschuldet, dem König keinen männlichen Thronfolger geboren zu haben. Dafür wurde sie von Thomas Cromwell zu Fall gebracht, der auch im dritten Teil von Hilary Mantels Tudor-Trilogie, «Spiegel und Licht», im Zentrum der Ereignisse steht. Doch der Sohn eines Schmieds aus Putney, der sich aus bescheidenen Verhältnissen bis an die Seite des Königs hochgearbeitet hat, sieht bald schon seinem eigenen Fall entgegen.
In «Wölfe» (2009) und «Falken» (2012) zeichnete Mantel den Aufstieg des hart arbeitenden und skrupellosen Cromwell (1485-1540), der als Verfechter der englischen Reformation und Architekt einer modernen Verwaltung in die Geschichtsbücher einging. In ihrem dritten Band ist Cromwell nun auf der Höhe seiner Macht und doch immer wieder den Launen seines Herrn ausgeliefert, der für ihn «der Spiegel und das Licht» des Buchtitels ist, in dessen Schatten er waltet. Und Cromwell ist es, der Henry sagt, «wen er heiraten, wieder wegschicken und als Nächste heiraten kann und wen und wie töten.»
Im Hintergrund immer die Wirren der Reformation: die Bemühungen um eine englische Bibelübersetzung, die Auflösung der Klöster und die Rebellionen der Untertanen, die keine Veränderungen in Liturgie und Thronfolge und die damit einhergehenden Machtverschiebungen wollen.
Dabei sitzt Cromwell zwischen allen Stühlen. Sind seine Kontakte zu den Reformern auf dem Kontinent zu eng, droht er als Ketzer verraten zu werden. Zeigt er Mitgefühl für die ungeliebte Lady Mary, die als Tochter von Heinrichs erster Frau Katharina von Aragon um ihre Position als Prinzessin kämpft, läuft er Gefahr als Papist und Verräter gesehen zu werden. Und dann ist da noch Kardinal Reginald Pole, der von Italien aus seine Intrigen gegen den englischen König schürt, und den Cromwell trotz allem nicht auszuschalten vermag.
Für den König muss Cromwell in diesem Band eine weitere Ehe arrangieren - mit Jane Seymour, die Henry endlich den ersehnten Sohn gebiert und dabei selbst ihr Leben lässt. Doch es ist die nächste Verbindung, bei der sich Cromwell verschätzt. Er will für den König eine Allianz mit einem deutschen Fürsten gegen Kaiser Karl V. und den französischen König schmieden. So kommt er auf Anna von Kleve, die zwar strategisch eine gute Lösung scheint, aber bei ihrer Ankunft in England seinem Herrn missfällt. Die Ehe muss schon bald wieder aufgelöst werden, und die nächste Heiratskandidatin, eine englische Adlige, steht schon bereit.
Mit dem Debakel um die Kleve-Heirat wird es einsam um den einst so erfolgreichen Lordsiegelbewahrer Cromwell. Die anderen königlichen Räte reden hinter seinem Rücken, ehemalige Verbündete wenden sich ab, selbst enge Freunde wechseln die Seiten. Vieles in dem historischen Roman ist zeitlos, Mantel besticht als Beobachterin des menschlichen Wesens. Einiges ist - in Zeiten der Corona-Pandemie - unbeabsichtigt aktuell. Als der Thronfolger Edward geboren wird, wütet die Pest in der Nähe des Königspalastes. «Die Freie Bewegung ist eingeschränkt. (...) Fremde sind ausgesperrt. (...) und das königliche Kinderzimmer wird zweimal täglich gründlich gereinigt.»
Obwohl die historischen Ereignisse aus den Geschichtsbüchern bekannt sind, schafft es Mantel, Spannung aufzubauen, als lese man einen Thriller mit offenem Ende. Dabei findet sich der Leser die meiste Zeit im Kopf des genialen Strategen Cromwell, der seinen Gegnern immer ein bis zwei Schritte voraus ist und sie doch fürchtet. Denn sie missgönnen dem geschäftigen Aufsteiger seine hohe Position am Hofe und lassen keine Gelegenheit aus, ihn an seine niedere Herkunft zu erinnern.
Doch Cromwell blockt alle Feindseligkeiten ab und sammelt Ämter, Reichtümer und Titel, immer das Ziel vor Augen und bereit, seine Gegner auszuschalten. «Die Liste meiner Sünden ist so lang, dass dem Engel der Gerechtigkeit wahrscheinlich längst das Papier ausgegangen ist», bemerkt er einmal.
Dass man den Mann Cromwell trotz seiner oberflächlichen Ruchlosigkeit schätzen lernt, liegt an den Einblicken, die Mantel uns in seine Vergangenheit gewährt. «Als Junge ist er von Tür zu Tür gegangen und hat angeboten, Scheren zu schleifen und Töpfe zu flicken. Er hat Hühnerställe gereinigt, Zinn poliert und auch schon einmal eine Schweinehälfte zerlegt», heisst es da über den Kronrat. Es gibt Rückblicke in eine Kindheit mit einem gewalttätigen Vater, vor dessen Angriffen Cromwell als Jugendlicher nach Italien flieht, um etwas aus sich zu machen. Als er später als Geschäftsmann über Flandern wieder nach England zurückkehrt, ist ihm das gelungen.
Als Jurist im Dienst des Kardinals Wolsey steigt er auf und wird später die rechte Hand des englischen Königs. Dabei bewahrt er sich seine Leutseligkeit im Umgang mit Bediensteten und den Mitgliedern seines Haushalts und auch mit den Unglücklichen, die er von der Strasse holt und in seinem Haus aufnimmt.
Doch am Ende nützen Cromwell all seine geistigen und menschlichen Fähigkeiten nichts mehr. Er hat den König enttäuscht und muss gehen, wie all die anderen, die er im Laufe seiner Karriere für seinen Herrscher aus dem Weg geräumt hat. Wie Mantel schreibt: «Wenn Henry der Spiegel ist, ist er der blasse Schauspieler, der keinen eigenen Glanz verbreitet, sondern sich im Spiegellicht dreht. Bewegt sich das Licht weiter, ist er nicht mehr.» Und so endet auch dieses politische Leben auf dem Schafott.
Für «Wölfe» (2009) und «Falke» (2012) erhielt Mantel jeweils den renommierten britischen Booker Prize. Auch «Spiegel und Licht» (2020) dürfte eine gute Chance haben.
- Hilary Mantel: Spiegel und Licht. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont, Köln, 1104 Seiten, 32,00 Euro, ISBN ISBN 978-3-8321-9724-7.