Ein Mensch wird nicht wertvoller, wenn er sich vermehrt!
«Ein Mensch wird nicht wertvoller, weil er sich reproduziert hat», schreibt unsere Kolumnistin Verena Brunschweiger.

Das Wichtigste in Kürze
- Die deutsche Autorin Verena Brunschweiger ist bewusst «kinderfrei».
- Auf Nau.ch schreibt Brunschweiger regelmässig Kolumnen – und erhitzt dabei die Gemüter.
Der Begriff «Ageism» wurde im angloamerikanischen Bereich das erste Mal 1969 benutzt. Er kann als Prozess der systematischen Stigmatisierung und Abwertung älterer Leute betrachtet werden.
Der britische Altersforscher Bill Bytheway sagt, dass «Ageismus» dazu beiträgt, die Angst vor dem Alter(n) zu schüren. Und Altersklischees zu fördern.
Gern geht «Ageismus» Hand in Hand mit dem überall präsenten Jugendwahn. Wo zeigt sich all das deutlicher als an der penetranten Forderung nach maximal vielen neuen Menschen?
Als kinderfreie Person mit vierzig Jahren hat man wohl gerade mal die Hälfte geschafft. Man hat also nach statistischer Wahrscheinlichkeit noch weitere vier Jahrzehnte vor sich. Dennoch massen es sich Leute an, zu trompeten, diese Person hätte keine Zukunft. Einzig und allein Kinder wären doch unsere Zukunft.
Eine tödliche Kombination
In Deutschland bekommt man ja im Tierheim als Siebzigjährige oftmals auch keinen Hund mehr, man wäre angeblich zu alt. Wissen die nicht, dass die durchschnittliche Deutsche über 80 Jahre alt wird? Und dass viele Hunderassen (wie Doggen) ohnehin nur sechs bis acht Jahre alt werden?
Alter Mensch mit altem Tier, vor allem natürlich alte Frau-altes Tier, das wird nicht gern gesehen. Dabei ist das eine Win-win-Situation!

Nicht kritisiert wird hingegen, wenn sich 80-jährige Männer nochmals fortpflanzen, was für die Kinder auch keine tolle Situation ist.
Da sollte man mal anfangen, statt eine einsame Seniorin an einer guten Tat zu hindern. Sexismus und Ageismus sind eine für Frauen tödliche Kombination.
Wie wertvoll ist ein Mensch?
Den Ageismus, dass ältere Opfer von Anschlägen oder Verbrechen allgemein weniger bedauert werden, kennt ohnehin jeder. Aber: Es sollte mal generell vermittelt werden, dass es eine grosse, stets wachsende Community gibt, der diese Tatsache auch schon sehr negativ aufgestossen ist.
Etliche Menschen sind nicht der Ansicht, dass der Tod eines Behinderten oder eines Kindes (oder gar eines Fötus!) an sich beklagenswerter ist als der einer Person, die kinderfrei oder kinderlos ist oder schon über Vierzig.
Ein Mensch wird nicht wertvoller, weil er/sie sich reproduziert hat. Solange das nicht rein will in die Köpfe, solange ist das keine Welt mit Lebensqualität. Vor allem nicht für kinderfreie Frauen.
Wir dürfen uns nicht fürchten vor dem Alter
Selbst Konservative wie der verstorbene Autor Frank Schirrmacher («Das Methusalem-Komplott») erkannten, «was es bedeutet, Teil eines Problems zu sein. Wir sind Teil der Überbevölkerungs- und Umweltgiftkatastrophe, wir sind verantwortlich für das Ozonloch oder das Waldsterben, wir vergeuden täglich Ressourcen.»
Leider war er nicht so klug wie der englische Tierfilmer Sir David Attenborough (99), der immer wieder warnt: «Entweder wir begrenzen unser Bevölkerungswachstum, oder die Natur wird es für uns tun.»
Das obliegt uns im Globalen Norden als hochgradige Ressourcenvergeuder sowieso in besonderem Mass. Man erinnere sich: Ein durchschnittliches Kind bei uns verbraucht so viele Ressourcen wie eine ganze durchschnittliche afrikanische Schulklasse.

Meine Blutlinie endet mit mir!
Wir dürfen uns nicht fürchten vor dem Alter(n). Wir müssen uns wehren gegen eine rein negative Sicht älterer Menschen!
Dazu gehört auch, dass man Frauen die Angst nimmt, wenn man kein jugendliches Abziehbild seiner selbst (vulgo Tochter) produziert, wäre man irgendwie nicht mehr interessant oder relevant.
Dabei verhält es sich doch gerade gegenteilig: Es verleiht einem Einzigartigkeit ohnegleichen, stolz sagen zu können: Meine Blutlinie endet mit mir!

Natürlich darf man auch nicht die ganzen Horrorszenarien kaufen, die von allen Seiten auf uns einprasseln. Bestimmte Medien und Konservative schüren die Angst vorm Alter gerade, um ihren perversen Jugendwahn zu rechtfertigen.
Es ist gar nicht notwendig, hier darauf hinzuweisen, wie lange Senior:innen heutzutage fit und aktiv am Leben teilnehmen. Oder dass es innovative Finanzierungskonzepte gibt, die das so gern in diesem Kontext überstrapazierte Rententhema gegenstandslos machen.
Eine alternde Gesellschaft ist keinesfalls so negativ, wie das die Kinderfetischisten darstellen, um ihren Egoismus ohne schlechtes Gewissen ausleben zu können.
Im Gegenteil: Sie eröffnet neue Möglichkeiten, die man als Chance und Bereicherung sehen sollte, nicht als etwas Negatives.
Denn: Auch Kinder sind nicht alle so gülden und rein positiv, wie manche meinen. Ein mir bekanntes zwölfjähriges Mädchen schrieb: Menschen über 70 sollten nicht mehr fahren und wählen dürfen. Solche Enkel wünsche ich all jenen, die so massiv mehr Kinder fordern!
Zur Person: Dr. Verena E. Brunschweiger, Autorin, Aktivistin und Feministin, studierte Deutsch, Englisch und Philosophie/Ethik an der Universität Regensburg. 2019 schlug ihr Manifest «Kinderfrei statt kinderlos» ein und errang internationale Beachtung.