Am 2. Dezember 2021 verabschiedete die Bundeswehr Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einem Grossen Zapfenstreich aus dem Kanzleramt. Wie ist es ihr seitdem ergangen?
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Angela Merkel im September 2022 beim Festakt zum 1100-jährigen Stadtjubiläum von Goslar in der Kaiserpfalz. - imago/Future Image

Was macht eigentlich Angela Merkel (68)? 16 Jahre war sie die Chefin, an fast jedem ihrer 5.860 Tage als Bundeskanzlerin kam sie via News zu jedem ins Haus – dann auf einmal nicht mehr. Das ist für eine Regierungschefin, die sie mal «Mutti» nannten, und ihr Land ein ziemlich abruptes Ende.

Ihren letzten ganz grossen Auftritt hatte sie vor einem Jahr. Am 2. Dezember 2021 wurde Angela Merkel mit einem Grossen Zapfenstreich im Fackelschein verabschiedet. Es hatte um die null Grad, alle fröstelten, da tat es gut, dass das Musikcorps der Bundeswehr «Für mich soll's rote Rosen regnen» spielte. Dann war Schluss, Angela Merkel wünschte ihrem Nachfolger Olaf Scholz (64) noch «Fröhlichkeit im Herzen» und ging nach Hause.

Sie ist auf der Suche

Sie wohnt nach wie vor mit ihrem Mann Joachim Sauer (73) in einer Altbauwohnung zur Miete, Berliner Museumsviertel, Kupfergraben Nr. 6, vierter Stock, mit Aufzug. Unten steht auf dem Klingelschild: «Prof. Sauer». Nach wie vor hat sie Personenschutz.

Wie sieht so ein ganz normaler Alltag aus, wenn man vom stressreichsten und verantwortungsvollsten Job, den dieses Land zu vergeben hat, von gestern auf heute aussteigt? Im Fall Merkel ist man vorwiegend auf Informationen Dritter angewiesen, denn die 68-Jährige redet ungern über sich, sie lässt vielmehr ein wenig über sich reden.

Ganz grundsätzlich hat sie dem «Spiegel»-Reporter Alexander Osang verraten, dass sie noch nach ihrem Weg suche: «Was ist eine Bundeskanzlerin a.D.?»

Mit diesem Gedanken im Kopf war sie im Winter an der Ostsee unterwegs. Wandern am Strand bei Wind und Wetter. Kapuze auf, «auslüften» von der Kanzlerschaft. Dicke Wälzer lesen, Hörbücher hören, Werke der Weltliteratur, «Don Karlos» von Schiller, «Macbeth» von Shakespeare.

Und nicht zu viel reden. Ihr sei dabei zustattengekommen, dass die Menschen an der Küste so verschwiegen seien wie sie selbst, sagt Merkel.

Ein neues Leben

Es ist ein neues Leben ausserhalb des Kanzleramts. Über zwei Monate nach ihrem politischen Rückzug ging eine erste grössere Geschichte durch die Medien: «Merkel in Berliner Supermarkt bestohlen». Die Altkanzlerin hatte ihre Geldbörse in den Einkaufswagen gelegt, am Ende war sie weg. Selbst ihr Personenschutz hatte den Diebstahl nicht bemerkt.

Sie habe viel Fernsehen geschaut, Serien wie «Babylon Berlin» oder «The Crown», verriet sie Osang im «Spiegel». Das Leben der englischen Königin scheint sie zu faszinieren, vor allem ihr Pflichtbewusstsein. Sie hat sie ja mehrere Male getroffen und findet es dem Bericht zufolge «unfassbar», dass Elizabeth II. noch zwei Tage vor ihrem Tod einer neuen Premierministerin den Auftrag für eine Regierungsbildung erteilt habe. Sie glaubt, dass die Queen alle ihre Kräfte noch mal mobilisiert habe, um sicherzugehen, dass Boris Johnson wirklich weg ist.

Auf Reisen

Im letzten Frühjahr hat sich Angela Merkel einen alten Wunsch erfüllt: eine Reise in die Toskana. Ihre Parteifreundin Annette Schavan (67), Merkels ehemalige Bildungsministerin und danach Botschafterin beim Heiligen Stuhl (Vatikan), war mit von der Partie. Die Damen besuchten in Florenz die berühmte Galleria dell'Accademia und bewunderten Michelangelos David.

Das fanden nicht alle gut. Der damalige ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk (47), twitterte gallig: «In Florenz liegen ja keine ermordeten Frauen und Kinder auf den Strassen. Dafür gibt es aber viel Kultur und Kunst. Herrlich.» Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (44) lud Merkel nach Butscha ein, wo russische Truppen ein Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet hatten.

Sie sagt, sie wolle sich raushalten aus der aktuellen Politik, keine Ratschläge von der Seitenlinie geben. Aber sie selbst wird nicht rausgehalten, nicht aus den Diskussionen um den Krieg in der Ukraine, der sie «ungleich mehr belastet als uns alle», wie ein langjähriger Freund, der Schauspieler Ulrich Matthes (63), dem «Stern» verriet. Den Kontakt zu Matthes pflegt Angela Merkel offenbar auch im Ruhestand. Als dem Schauspieler von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (66) das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, sass Merkel brav im Publikum.

Alte Rechnungen

Inzwischen haben sich ehemalige Kollegen aus der eigenen Partei gemeldet, die offensichtlich noch eine alte Rechnung begleichen wollen, zum Beispiel Norbert Röttgen (57). Der Aussenpolitiker der Unionsfraktion war 2009 bis 2012 Umweltminister im Kabinett Merkel, nach einer verlorenen Wahl in NRW hatte sie ihn abserviert. Nun sagt er laut «Frankfurter Allgemeine Zeitung» über seine ehemalige Chefin, die Überraschung über Wladimir Putins (70) Angriffskrieg liege «nicht daran, dass es nicht zu sehen war. Es wurde vielmehr entschieden, dass man es nicht sehen wollte».

Und das CDU-Urgestein Wolfgang Schäuble (80), von dem Merkel 2000 den Parteivorsitz übernahm, bevor er Minister ihrer Regierung wurde, erklärte dem «Handelsblatt», er sei in Bezug auf Russland «wütend» auf sich, man habe «es wissen können. Putin hat öffentlich gesagt, der Zerfall der Sowjetunion sei die grösste Katastrophe und dass er das rückgängig machen wolle».

Es sei daher für ihn «befremdlich», dass die frühere Bundeskanzlerin keine Fehler ihrer Russlandpolitik eingestehe. Im Übrigen zähle er Adenauer, Brandt und Kohl zu den «grossen Kanzlern der Republik», Merkel nennt er nicht. Seine Liste sei «vorläufig abgeschlossen».

Keine Entschuldigung

Angela Merkel, so schreibt der «Spiegel», wird «vom Vorbild zur Verantwortlichen, von der Krisenmanagerin zur Krisenverursacherin.» Alle wollten nun «eine Entschuldigung, vor allem für ihre Russlandpolitik. Sie aber, so scheint es, will sich nicht entschuldigen, weil sie nicht weiss, ob sie wirklich falsch lag. Ob ihr die Geschichte am Ende nicht doch recht gibt».

Dagegen hält ihr ehemaliger Stellvertreter und zeitweiliger Umwelt-, Wirtschafts- und Aussenminister Sigmar Gabriel (63, SPD) sie für «eine gute, in vielerlei Hinsicht auch eine grosse Kanzlerin», wie ihn der «Spiegel» zitiert. Es gäbe überhaupt keinen Grund für sie, sich für etwas zu entschuldigen. «Nord Stream und der Verkauf der Gasspeicher, für den ich ja zuständig war, sind Folge der Liberalisierung des europäischen Energiemarktes, die 2002 von der EU beschlossen wurde. Das will heute keiner mehr hören.»

Gabriel meint sogar, dass Putin die Ukraine nicht angegriffen hätte, wenn Merkel noch im Amt gewesen wäre. Er habe unglaublichen Respekt vor ihr gehabt.

«Lame Duck» ohne Macht

Sie selbst stellt es im «Spiegel» etwas anders dar. Als sie gegen Ende ihrer Kanzlerschaft im Sommer 2021 zum letzten Mal in Moskau war, habe sie der russische Präsident Wladimir Putin spüren lassen, dass sie eine «lame duck» sei. «Das Gefühl war ganz klar: 'Machtpolitisch bist du durch.' Für Putin zählt nur Power. Er hatte bei diesem letzten Besuch auch Lawrow (den russischen Aussenminister – die Red.) mitgebracht, sonst haben wir uns häufiger unter vier Augen getroffen.»

Putins Finten, Lügen und Tricks sind ihr seit Jahren geläufig. 2005, bei ihrer ersten Begegnung im Kreml, schenkte er ihr einen grossen Stoffhund mit der überraschenden Bemerkung: «Ich habe gehört, du hast ein Problem mit Hunden.» Zwei Jahre später brachte er bei einem Treffen in Sotschi am Schwarzen Meer eine Labradorhündin mit, die ohne Leine zwischen ihm und Merkel rumlief. Heute sagt sie: «Eine tapfere Bundeskanzlerin muss mit so einem Hund fertig werden.»

Treffen mit Obama

Da liefen die Treffen mit Barack Obama (61) harmonischer ab. Zuletzt sah sie den ehemaligen US-Präsidenten diesen Sommer. Obama veröffentlichte auf Twitter Fotos von einem gemeinsamen Museumsbesuch in Washington und schrieb dazu: «Ich bin glücklich, sie als Freundin bezeichnen zu können.» Dagegen ätzt sein abgewählter Nachfolger Donald Trump (76) über Merkel: «Niemand erinnert sich mehr an sie.»

Das Ehepaar Merkel/Sauer liebt die Oper und hatte auch in diesem Jahr ein festes Programm. Besuche in Salzburg, wo sie in einem Restaurant ausrutschte und sich ein Kreuzband riss und in Bayreuth, wo ihr neongrünes Outfit Aufsehen erregte und die Münchner «Abendzeitung» schrieb, sie habe wie «ein in Plastik verpacktes Apfelbonbon» gewirkt, was ihr aber «herrlich egal» zu sein schien.

Politische Memoiren in Arbeit

Job-Angebote wie das von UN-Generalsekretär Antonio Guterres (73), den Vorsitz eines Beratungsgremiums zu globalen öffentlichen Gütern zu übernehmen, lehnte sie ab, ebenso wie die Idee vom ehemaligen CDU-Boss und Kanzlerkandidaten Armin Laschet (61), sie zur Ehrenvorsitzenden der Partei zu machen. Das passe nicht mehr in die Zeit. Auch auf Redeangebote amerikanischer Agenturen, die üblicherweise mit vielen 100.000 Dollar honoriert werden, ging sie nicht ein.

Sie bezieht eine Pension von ca. 15.000 Euro pro Monat, hat ein Büro in Berlin, in Räumlichkeiten, wo einst Margot Honecker und später ihr Vorvorgänger Helmut Kohl als Ruheständler sass. Die Kosten mit neun Mitarbeitern hatte im Herbst das Bundeskanzleramt als zu hoch angemahnt.

2021 ist ihr Buch «Was also ist mein Land?» mit drei wichtigen Reden von Angela Merkel erschienen. Derzeit sitzt sie mit ihrer langjährigen Büroleiterin und politischen Beraterin Beate Baumann (59) an ihren politischen Memoiren, die 2024 veröffentlicht werden sollen. Das (höchstwahrscheinlich fürstliche) Honorar ist Geheimsache.

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