Landsgemeindeansprache Landammann Daniel Fässler
Eröffnung der Landsgemeinde

Hochgeachteter Herr Landammann Hochgeachtete Damen und Herren Getreue, liebe Mitlandleute und Eidgenossen
Vor gut 100 Jahren, im November 1918, fanden die Kampfhandlungen des als «Erster Weltkrieg» in die Geschichte eingegangenen Krieges nach gut vier Jahren Dauer ein Ende. 40 Staaten hatten sich an diesem Krieg beteiligt, gegen 70 Millionen Menschen standen in Europa, in Afrika, im Nahen Osten, in Ostasien und auf den Ozeanen unter Waffen. Rund 17 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Auf den Pariser Friedenskonferenzen wurde ab Januar 1919 über die Nachkriegsordnung verhandelt, zuerst unter den siegreichen Alliierten, danach mit den unterlegenen Mittelmächten, das heisst mit dem Deutschen Reich, dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und Bulgarien. Der bis Mai 1919 ausgehandelte Versailler Vertrag und die verschiedenen Folgeverträge waren weitgehend einseitig diktierte Abkommen. Diese bildeten später den Nährboden für einen weit über Patriotismus hinausgehenden Nationalismus, der in verschiedenen Staaten Europas in der Machtergreifung von Nationalsozialisten und Faschisten gipfelte, von politischen Heilsbringern, welche Ressentiments und Ängste schürten und mit einfachen Versprechungen eine bessere Zukunft versprachen. Die schreckliche Folge davon war der «Zweite Weltkrieg», der von 1939 bis 1945 über 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Die der Neutralität verpflichtete Schweiz liess sich nicht in diese Kriegswirren hineinziehen und blieb glücklicherweise weitgehend verschont. Auch wenn diese Ereignisse zum Glück längst Geschichte sind, tun auch wir gut daran, uns immer wieder an diese Ereignisse und deren Folgen zu erinnern, aber auch deren Ursachen. Denn Friede unter den Völkern ist leider keine Selbstverständlichkeit. Wenn heute in verschiedenen Staaten dieser Welt Kräfte erstarken oder sogar die Oberhand gewinnen, welche reale Probleme und Zukunftsängste mit einfachen politischen Rezepten zu lösen versprechen, politische Gegner diffamieren, und mit übersteigertem Nationalismus und populistischer Rhetorik die Stimmung anheizen, dann ist Wachsamkeit gefordert. Der vom lateinischen Wort «populus», das Volk, abgeleitete Begriff «Populismus» wird in letzter Zeit schon fast inflationär verwendet, vorzugsweise um der Gegenseite vorzuwerfen, es mangle ihr an wirklichen Argumenten. Übersehen wird dabei nicht selten, dass sich die Politik immer an der Stimmung im Volk orientiert. Dies ist per se weder verwerflich noch gefährlich, sondern demokratisch, solange das Volk wirklich das Sagen hat. Ein so verstandener Populismus ist nicht das Ende der Demokratie, sondern im Gegenteil eine Aufforderung, diese gegen Demagogie und Dramatisierung zu verteidigen, mit Selbstbehauptungswillen sowie mit Reform- und Konsensbereitschaft. Denn auch Demokratien können sterben. Für die schweizerische Demokratie habe ich diese Befürchtung nicht. Unsere Staatsgewalten und Institutionen sind stark und ausbalanciert. Was mehr Sorgen bereitet, ist die wachsende Polarisierung der Politik und der damit einhergehende Verlust an politischem Anstand. Der ständige Wettbewerb um Profil und Aufmerksamkeit erschwert zunehmend tragfähige Kompromisse. Entsprechend unberechenbarer ist auch in der Schweiz die Politik geworden. In dieser Situation sind wir Stimmberechtigten noch stärker gefordert, uns zu beteiligen und uns dabei zugunsten des Ausgleichs und der Solidarität einzubringen. Dies ganz im Sinne der vor 20 Jahren beschlossenen Bundesverfassung, wo es in der Präambel unter anderem heisst: «gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Liebe Mitlandleute und Eidgenossen, wir haben in unserem Kanton das Privileg, einmal im Jahr an der Landsgemeinde die kantonale Politik zu bestimmen, zu wählen, über die Verfassung und Gesetze, Kredite und Initiativen zu entscheiden. Wir tun gut daran, dabei die immer wieder gepriesene «Sachpolitik» hoch zu halten und auch im Dissens zusammenzustehen. Dies auch im Sinne der Präambel der Bundesverfassung, mit der sich Volk und Stände darauf verpflichtet haben [ich zitiere]: «in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben».