Ueli Schmezer: «Unsere sinkende Aufmerksamkeit bedroht Demokratie!»
Diese Kolumne ist ein Experiment, sagt Nau.ch-Kolumnist Ueli Schmezer. Es richtet sich an die Person, die sich das Video anschaut.
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Das Wichtigste in Kürze
- Ueli Schmezer ist Nau.ch-Kolumnist, sein Videoformat heisst «Auf den Punkt».
- Er fragt: «Wie schnell wird es dir unangenehm, wenn es nicht grad voll abgeht?»
- Seine Feststellung: Wer nicht richtig zuhört, kann nicht richtig debattieren.
«Unsere Fähigkeit, dran zu bleiben, aufmerksam zu sein, nimmt ab», sagt Kolumnist Ueli Schmezer. Und das sei nicht nur auf der persönlichen Ebene ein Problem, sondern auch für unser Zusammenleben.
Sinkende Aufmerksamkeit bedeute, dass wir es nicht mehr schaffen, wirklich zuzuhören – eine Gefahr für unsere Debattenkultur. «Wie wollen wir debattieren, wenn wir gar nicht mitbekommen, um was es dem Gegenüber wirklich geht?»
Viele Menschen würden überhaupt nicht mehr zuhören, stellt Nationalrat Schmezer ernüchtert fest. Auch im Parlament. «Was wir Debatte nennen, ist über weite Strecken längst keine mehr.»

Unsere geschwächte Aufmerksamkeit sei aber nicht nur eine Gefahr für die Debatte und somit für die Demokratie, sondern viel grundsätzlicher: «Wenn wir nicht lange genug zuhören können, erkennen wir nicht mehr, was echte Probleme sind und was nicht. Und wir werden anfällig für simple, populistische, autoritäre Lösungen.»
Seine Gedanken äusserte Schmezer auch in seinen 1.-August-Reden in Hilterfingen BE und Iseltwald BE. Für den vollständigen Wortlaut siehe unten.
Zur Person: Ueli Schmezer ist Journalist und Jurist – und er sitzt seit März 2025 im Schweizer Nationalrat. Er hat bis 2022 für SRF gearbeitet, zuletzt im «Kassensturz». Heute ist er selbstständiger Auftrittscoach, Medientrainer und SP-Mitglied. Seit über 20 Jahren steht Schmezer auch als Musiker auf der Bühne.
1.-August-Rede von Ueli Schmezer
Liebe Leute, grüessech mitenand.
Was für ein schöner Augenblick! Schaut euch mal um. So ein schönes Schloss. So ein schöner See. So schönes Wetter. So schöne Alphornklänge in Stereo. Unglaublich! Und ganz besonders – ihr solltet euch jetzt sehen – ich sehe vor mir eine Riesenmenge aufmerksamer Gesichter. Ungeteilte Aufmerksamkeit sozusagen. Das ist selten heute. Und drum sage ich schon mal merci – merci für eure Aufmerksamkeit. Und merci, dass ich an unserem Nationalfeiertag ein paar Gedanken äussern darf, die mir gerade heute wichtig erscheinen.
Mein erster Gedanke ist genau dieses Thema der Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist nicht nur wertvoll. Sie ist Voraussetzung für richtiges Zuhören und richtiges Zuhören ist Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wenn wir nicht mehr zuhören, dann ist die Demokratie in Gefahr – ich meine das genauso, wie ich es sage.
In Klammer: Was heisst zuhören? Ich meine, richtig zuhören! Das heisst, nicht schon daran denken, was man alles erwidern könnte. Richtig zuhören würde ich so definieren: Wenn du die Aussagen des Gegenübers mit deinen eigenen Worten wiedergeben kannst. Klammer zu.
Wenn wir nicht mehr zuhören, dann ist die Demokratie in Gefahr. Weil: Zuhören ist die Voraussetzung für die Debatte. Wobei sich grundsätzlich die Frage stellt: Sprechen wir überhaupt noch miteinander? Haben wir heutzutage noch eine richtige Debatte? Ich bin seit kurzem im Parlament und ich erlebe das hautnah: Meine Antwort ist leider über weite Strecken: Nein! Wir haben keine Debatte mehr, der eine sagt was, die andere etwas, dann noch einer und schon kommt die Abstimmung. Das ist doch nicht zusammen reden, das ist doch nicht debattieren. Man will gar nicht mehr zuhören. Noch schlimmer: Je nachdem wo man sitzt, hat man es gar nicht mehr nötig zuzuhören, weil man die Mehrheit hat und diese Mehrheit ihre Meinung schon lange gemacht hat. Das ist, es tönt vielleicht etwas hart, das ist Arroganz. Das ist die Arroganz der Mehrheit, das ist auch Missbrauch der Mehrheit. Und das ist eine Bedrohung der Demokratie. Demokratie ist wirklich etwas mehr als einfach Mehrheit.
Völlig klar: ich sage nichts gegen unsere Staatsform, zweifellos ist Demokratie die beste Staatsform. Aber: Sie ist nicht selbstverständlich, sie ist kein Selbstläufer. Zur Demokratie müssen wir Sorge tragen. Und da mache ich mir wirklich grosse Sorgen. Viele Leute von uns, vermutlich meisten, halten die Demokratie für selbstverständlich. Wir wurden geboren, da war die Demokratie schon da. Wir gehen davon aus, wenn man sie mal hat, hat man sie für immer. Das ist eine gefährliche Haltung. Was erleben wir aktuell? Man sieht es an anderen Orten auf der Welt. Demokratie kann man kaputt machen oder mindestens ernsthaft beschädigen.
Mani Matter sagte es sehr schön im Lied Dynamit: «Es länge für’s z spränge es paar Seck Dynamit». Er meinte das Bundeshaus, aber meinte natürlich als politischer Mensch auch die Demokratie.
Demokratie funktioniert nicht per se, sie ist abhängig von den Beteiligten. Es braucht verantwortungsvolle Menschen. Er braucht verantwortungsvolle Menschen nicht nur dort oben, oder dort hinten, es braucht sie überall. In der Regierung, im Parlament, und auch hier, in der Bevölkerung. Auch wir müssen vernünftig sein, weil die Bevölkerung die Demokratie auch kaputt machen kann. Die Macht ist verteilt in der Demokratie, das ist gut, das soll so sein. Aber der Umgang mit Macht, auch wenn sie verteilt ist, funktioniert zum Nutzen der Menschen nur, wenn man verantwortungsvoll damit umgeht. Das heisst: es müssen alle verantwortungsvoll sein und handeln.
Was heisst das fürs Parlament? Nicht verantwortungsvoll ist, wenn man dort hin geht und sich nur als Verbandsvertreter definiert. Also etwa nur als Hauseigentümervertreter, Waffenverkäufervertreter oder einfach nur an sich denkt. Etwa als Besitzer eines Einfamilienhauses nur Politik für Einfamilienhäuserbesitzer macht. Viele haben in der Schweiz kein Einfamilienhaus, trotzdem machen viele im Parlament nur Politik für Einfamilenhäusler. Das ist nicht verantwortungsvoll. Auch nicht, den Leuten Angst zu machen und nur an die Menschen denken, wenn Wahlen anstehen: das ist alles verantwortungslos.
Auch der Bundesrat muss verantwortungsvoll handeln. Etwa soll er oder sie die Wahrheit sagen. Wir haben es in den letzten Jahren bei den Abstimmungen ein paar Mal erlebt, dass sie uns vor den Abstimmungen nicht die Wahrheit gesagt haben und uns abstimmen liessen. Das ist verantwortungslos. Auch ein Bundesrat hat sich an die Regeln zu halten. In der Verfassung steht beispielsweise klar, dass die wichtigen Bestimmungen in ein Gesetz kommen und nicht in eine Verordnung. Es geht nicht, dass wichtige Sachen in eine Verordnung kommen, ausserhalb des demokratischen Meinungsbildungsprozesses. Das geht nicht. Aber es wird gemacht. Das ist nicht verantwortungsvoll.
Auch wir als Bevölkerung müssen verantwortungsvoll handeln. Wir dürfen uns nicht zum Wutbürgertum hinreissen lassen, auch wenn es manchmal verführerisch wäre. Es ist eine einfache Haltung, manchmal vielleicht sogar befreiend, zu sagen, wir hauen jetzt einfach alles kaputt. Aber das dürfen wir nicht. Und wir dürfen auch nicht aufhören, uns zu interessieren, wir dürfen uns nicht von der politischen Auseinandersetzung verabschieden.
Ein zweiter wichtiger Gedanke an unserem Nationalfeiertag. Ich beobachte eine wachsende Gleichgültigkeit von vielen Menschen gegenüber Sachen, die rund um uns herum passieren. Es ist wirklich kein erfreulicher Moment in der Weltgeschichte. Es passieren furchtbare Dinge. Wir haben Krisen, Kriege, die relativ nah sind. Wir haben autokratische Herrscher, die sich um alles foutieren. Ich kann es nachvollziehen, dass man in solchen Momenten sagt: Es ist mir einfach zu viel, dass man sich einen Filter reinlegt und das Ganze etwas wegschiebt. Es ist Hilflosigkeit, aber auch Eigenschutz. Lässt man das alles auf sich einprasseln, ist es zum Verzweifeln. Ich finde: ein Filter ist ok, aber man darf nicht gleichgültig werden. Wir dürfen nicht sagen, es ist doch egal, was wir machen, die Welt draussen ist so schrecklich, kommt doch nicht darauf an, ob wir in unserer Gemeinde ein Trottoir etwas breiter machen oder nicht. Es darf nicht so weit kommen, dass wir uns fragen, ob wir uns noch für gentechfreie Landwirtschaft einsetzen sollen, die Welt ist doch in einem so traurigen Zustand. Warum soll ich da noch meine Oelheitzung ersetzen? Rollstuhgängige Tramstationen? Warum soll man da noch Kinder unterstützen, die in der Schule Mühe haben, warum wollen Frauen gleichviel verdienen? Das spielt doch alles keine Rolle…die Welt ist in so einem Sch…zustand. Wozu sollen wir uns da noch Mühe geben?
Liebe Leute, das ist extrem gefährlich, wenn wir uns dazu hinreissen lassen. Dann geht definitiv alles bachab. Ganz ehrlich: ich finde das auch eine bequeme Haltung, eine feige Haltung und es ist auch nicht sehr schlau. Wir können immer nur das gut machen, was in unserem Einflussbereich ist, egal, ob es auf der Welt gerade gut oder versch… läuft.
Letztlich ist es die Frage: was wollen wir? Wollen wir Sorge tragen zu den Menschen? Zur Umwelt? Zum Leben? Zur Schöpfung? Oder ist uns alles egal?
Ein dritter Gedanke: Wir leben in einer Zeit, wo sich in dieser Welt die Gewalt durchsetzt. Wo derjenige Recht bekommt, der mit Gewalt auftritt, und sich derjenige Gehör verschafft, der sich um das Recht foutiert. Wir leben in einer Welt, wo diejenigen Erfolg haben, die rücksichtslos sind – an vielen Orten auf dieser Welt.
Das färbt ab, auch in der Schweiz. Natürlich, bei uns in der Schweiz ist alles immer etwas weniger schlimm. Aber es färbt ab, Sie merken das sicher auch. Der Umgangston, die Rücksichtslosigkeit, die Art und Weise wie wir einander behandeln. Es wird härter, überall, am Arbeitsplatz, im Strassenverkehr, an der Kasse im Supermarkt, im Mailverkehr, die Sprache wird immer gröber, in der öffentlichen Debatte, in den Sozialen Medien, oft der absolute Horror. Und leider auch in der Politik wird’s härter. Offenbar hat man mit dieser rüden Art Erfolg, da kann ich verstehen, dass sich Leute sagen, ich mache es auch so.
Aber liebe Leute, wir dürfen uns einfach nicht anpassen, auch wenn es noch so verlockend ist. Wir dürfen diesen Ton nicht übernehmen, weil wir uns sonst diesen Leuten annähern, die so unterwegs sind. Wenn wir diese Rücksichtslosigkeit übernehmen, dann entfernen wir uns von unserer eigenen Menschlichkeit … und verraten letztlich unsere Werte.
Liebe Leute, ich geniesse den Tag an diesem wunderbaren Ort mit euch allen vor dem Schloss Hünegg, mit Blick auf den See, aber: ich mache mir Sorgen. Und ich bin überzeugt: Es war schon lange nicht mehr so wichtig, wie genau jetzt, dass wir Rückgrat haben und Haltung beweisen.
Das sind meine persönlichen Wünsche an diesem 1. August: Ich wünsche uns Rückgrat und Haltung, Mut, Empathie und ganz wichtig: Zuversicht.
Ueli Schmezer, Nationalrat