Manuela Dillier erzählt im Gastbeitrag, wie man handeln soll, wenn das eigene Kind unter depressiven oder sogar suizidalen Gedanken leidet.
Depression
periphere Blutzellen verformbarer bei Menschen mit Depressionen - Keystone
Ad

Das Wichtigste in Kürze

  • Durch die Corona-Pandemie leiden immer mehr Jugendliche unter psychischen Problemen.
  • Wie man damit umgeht, wenn das eigene Kind Suizidgedanken hat, erzählt Manuela Dillier.

Viele Kinder und Jugendliche leiden unter der Pandemiesituation. Am meisten zu schaffen machen ihnen innerfamiliäre Konflikte sowie das Wegfallen von Strukturen und sozialen Beziehungen. Kliniken berichten, dass die Zahl der Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten, Suizidgedanken und Suizidhandlungen ansteigt.

Doch wie reagiert man, wenn man feststellt, dass das eigene Kind leidet und depressiv wirkt, oder sogar von Suizidgedanken erzählt? Manuela Dillier, 50 Jahre alt und Mutter von drei Teenagern, hat dies mit ihrem ältesten Sohn erlebt.

«Er wurde immer stiller»

Daniel* ist 17-jährig, als der Unterricht an seinem Gymnasium im Kanton Schwyz coronabedingt plötzlich nur noch online stattfindet. Während dieser Zeit outet er sich als homosexuell – ein Schritt, dem meist ein langer Selbstfindungsprozess vorangeht und der leider nach wie vor vom Risiko begleitet ist, zum Aussenseiter zu werden.

Seine Familie unterstützt ihn, doch Manuela bemerkt, wie sich Daniel verändert: «Während des Lockdowns hat sich mein Sohn zurückgezogen. Er kam kaum noch aus seinem Zimmer und wurde immer stiller.» Die Einschränkungen durch die Corona-Massnahmen, die fehlenden sozialen Kontakte, der Druck in der Schule und das Outing – es wurde alles zu viel für ihn.

Pro Juventute
Kinder und Jugendliche litten besonders unter den Folgen der Corona-Pandemie. Pro Juventute hat eine Zunahme der Beratungen wegen Suizidgedanken registriert. (Archivbild) - sda - KEYSTONE/DPA/CARSTEN KOALL

Auf gemeinsamen Spaziergängen im Wald und in vielen Gesprächen versucht Manuela, ihren Sohn aus dem Strudel negativer Gedanken und aus seiner Ohnmacht herauszuholen. Sie hört ihm zu und erzählt von ihrem eigenen Genesungsweg nach einer psychischen Erkrankung. Vor neun Jahren erkrankte sie an einer Depression.

Es dauerte einige Zeit, bis sie die richtige Unterstützung erhielt. Heute fühlt sich Manuela stärker als zuvor. Es gebe noch immer Tage, an denen es ihr nicht gut gehe, aber sie wisse, dass diese vorbeigingen, und wolle anderen Betroffenen Mut machen. «Manchmal hilft das Wissen, dass man nicht allein ist und es vielen anderen Personen ähnlich geht», ist Manuela überzeugt.

Zu wenig psychiatrische Hilfsangebote

Als sich die Krise zuspitzt, erzählt ihr Daniel von seinen Suizidgedanken. Manuela sowie der Psychologe, mit dem Daniel während dieser Zeit beinahe täglich telefoniert, versuchen, ihn von einem Klinikaufenthalt zu überzeugen. Manuela sucht nach einem stationären Therapieplatz, doch die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind voll und können erst ein halbes Jahr später wieder neue Patienten aufnehmen.

Depression
Das Coronavirus hatte global verheerende Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Menschen. (Symbolbild) - dpa

Die Erfahrung zeigt deutlich, was längst bekannt ist: dass die Versorgungslücke in der Kinder- und Jugendpsychiatrie enorm ist. Manuela sucht weiter und findet für Daniel einen Platz in der Akutstation der Klinik Littenheid, in der er zwei Monate verbringt. Rückblickend findet Manuela, dass der Klinikaufenthalt das Beste war, was sie seinerzeit machen konnten. Heute ist die psychische Gesundheit ihres Sohnes stabil.

Alle können «Erste Hilfe» für psychische Gesundheit lernen

50 Prozent aller psychischen Störungen brechen vor dem 18. Lebensjahr aus, 75 Prozent vor dem 25. Lebensjahr. Die Pubertät ist eine Herausforderung für Eltern und Kinder. Es ist nicht einfach, eine «normale» pubertäre Krise von einer psychischen Erkrankung zu unterscheiden.

Die Anzeichen werden von Erwachsenen oft falsch interpretiert, was umso tragischer ist, als sich psychische Erkrankungen tendenziell verschlechtern und chronisch werden können. Umgekehrt ist der Heilungsverlauf umso günstiger, je früher eine Erkrankung behandelt wird.

Psychische Erkrankungen frühzeitig erkennen

Auch Manuela weiss, wie wichtig es ist, Symptome einer psychischen Erkrankung frühzeitig zu erkennen und zu intervenieren. Sie ist eine von über 5000 Ersthelferinnen und Ersthelfern für psychische Gesundheit, die im Rahmen des Projekts ensa ausgebildet wurden.

«Ich wollte das Wissen, das ich als Betroffene und Angehörige habe, vertiefen und lernen, wie ich anderen Menschen in einer psychischen Krise helfen kann.» Manuela besuchte deshalb einen ensa Erste-Hilfe-Kurs beim SRK in Baar. In zwölf Kursstunden lernen die Teilnehmenden, wie sie als Laien bei Menschen mit psychischen Schwierigkeiten in fünf Schritten Erste Hilfe leisten können.

Professionelle Hilfe in Anspruch nehmen

«Der Kurs gab mir Sicherheit und zeigte, dass ich in vielen Situationen intuitiv richtig gehandelt habe.» Neben der Vermittlung von Basiswissen zu Depression, Angststörungen, Psychose und Sucht bietet ensa Raum für die praktische Umsetzung der Theorie. In Fallbeispielen und Rollenspielen üben die Kursteilnehmenden, wie man schwierige Themen anspricht und Betroffene ermutigt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

suizidgefahr
Viele Menschen fühlen sich in der Corona-Situation überfordert. Oftmals werden psychische Erkrankungen zu spät bemerkt. Foto: Oliver Berg/dpa - dpa-infocom GmbH

«Die Rollenspiele empfand ich als grosse Herausforderung. Ich konnte stark profitieren. Auch der Austausch mit den anderen Kursteilnehmenden war bereichernd», erzählt Manuela. Seit Herbst 2020 bietet die Stiftung Pro Mente Sana mit Unterstützung der Beisheim Stiftung den ensa Erste-Hilfe-Kurs Fokus Jugendliche an.

Dieser richtet sich speziell an Erwachsene, denen Jugendliche anvertraut sind – etwa Eltern, Lehrer und Berufsbildner. Neben dem Grundwissen zu psychischer Gesundheit und den Krankheitsbildern behandelt der Kurs zusätzlich die Entwicklung Jugendlicher und die Themen Essstörungen sowie Verhaltenssüchte.

Dringend nötig: Weiterbildung an Schulen

Erwachsene in Sachen psychische Gesundheit von Jugendlichen zu schulen, ist dringend nötig, davon ist Manuela Dillier überzeugt. Viele Schüler leiden wegen Corona unter dem Verlust sozialer Kontakte und klagen über Stresssymptome und Zukunftsängste.

Es gebe Klassen, in denen die Lehrkräfte beinahe die Hälfte der Schüler zur Schulsozialarbeit schicken müssten, erzählt sie aus eigener Erfahrung. Den Lehrpersonen fehle die Kapazität, sich der Sorgen aller ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen anzunehmen, und an manchen Schulen fehle die Schulsozialarbeit schlichtweg. «Mit meiner Geschichte möchte ich für das wichtige Thema der psychischen Gesundheit sensibilisieren und hoffe, dass künftig mehr Personen wissen, wie sie Erste Hilfe für psychische Gesundheit leisten können.»

*Name von der Redaktion geändert

***

Brauchen Sie Hilfe?

Sind Sie selbst depressiv oder haben Sie Suizidgedanken? Dann kontaktieren Sie bitte umgehend die Dargebotene Hand (www.143.ch).

Unter der kostenlosen Hotline 143 erhalten Sie anonym und rund um die Uhr Hilfe. Die Berater können Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen. Auch eine Kontaktaufnahme über einen Einzelchat oder anonyme Beratung via E-Mail sind möglich.

Hilfe für Suizidbetroffene unter trauernetz.ch.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

MutterHerbstCoronavirus