Am 28. Februar ist der jährliche Internationale Tag der seltenen Krankheiten. Der Förderverein KMSK lud zum 10. Wissens-Forum ein. Ein Gastbeitrag.
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Die Podiumsdiskussion am 10. KMSK Wissens-Forum wurde von SRF-Frau Daniela Lager moderiert. - zVg
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Das Wichtigste in Kürze

  • Am Samstag fand das 10. Wissens-Forum des KMSKs in Luzern statt.
  • Der KMSK ist der gemeinnützige Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten.
  • Der Anlass wird jährlich zum Internationalen Tag der seltenen Krankheiten durchgeführt.

Im Rahmen des Internationalen Tages der seltenen Krankheiten (28. Februar 2023) fand am 25.2.2023 das 10. KMSK Wissens-Forum des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten zum Thema «Versicherungsleistungen, Beantragung und Durchsetzung» im KKL Luzern statt. Im Fokus stand der Kampf rund um Versicherungs- und Unterstützungsleistungen beleuchtet aus verschiedenen Blickwinkeln.

In einer regen Podiumsdiskussion zwischen Martin Boltshauser, Rechtsanwalt, Leiter Rechtsdienst, Mitglied der Geschäftsleitung Procap Schweiz, Irene Weber-Hallauer, Sozialarbeiterin mit Schwerpunkt Krankheit und Behinderung, Christina Schönholzer, betroffene Mutter von Mira, Dr. med. Tobias Iff, FMH Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie Zentrum für Kinderneurologie AG und Dieter Widmer, Geschäftsführender Direktor, IV-Stelle Kanton Bern (Autor des Buches «Die Sozialversicherung in der Schweiz), wurde in knapp drei Stunden ein gigantischer Wissensfluss erzielt. Moderiert wurde das KMSK Wissens-Forum von SRF Journalistin Daniela Lager.

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Die Moderatorin und Journalistin Daniela Lager moderierte das 10. KMSK Wissens-Forum.
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Das Wissens-Forum fand im KKL Luzern statt.
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Die Podiumsdiskussion mit Martin Boltshauser (l), Christina Schönholzer (2.v.l.), Daniela Lager (3.v.l.), Dieter Widmer, (3.v.r.), Irene Weber-Hallauer (2.v.r) und Dr. med. Tobias Iff (r).
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Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion zusammen mit Manuela Stier (hinten links).

Die Hauptperson des 10. KMKS Wissensforums ist ein kleines viereinhalbjähriges Mädchen – Mira. Ihre Geschichte steht stellvertretend für tausende von Familien, deren Kind eine seltene Krankheit oder eben keine Diagnose hat. So wie Mira. Das Mädchen ist stark entwicklungsverzögert, kann nicht sprechen, laufen oder selbständig sitzen, schreit oft stundenlang. Einen Namen für Ihre Beschwerden gibt es nicht, trotz unzähligen Untersuchungen und einem Gentest. «Obschon die Genetik grosse Fortschritte macht, kann bei 40–50 Prozent der Kinder keine Diagnose gestellt werden», sagt dazu der Kinderneurologe und Podiumsteilnehmer Dr. med. Tobias Iff. Was das für betroffene Eltern bedeutet, erzählen Miras Mama und Papa in einem berührenden Film von SRF, der gleich zum Auftakt des Wissensforums abgespielt wurde.

Keine Diagnose – weniger Versicherungsleistungen

Da ist einerseits die grosse Sorge um ihre Tochter und die tägliche Belastung in deren aufwändiger Pflege – andererseits ist da der ständige Kampf mit den Versicherungen. Denn, wo keine Diagnose ist, fehlen IV-Abrechnungsziffern und folglich werden dringend benötigte Hilfsmittel nicht finanziert. Im Fall von Mira ist das zum Beispiel ein Stehbrett, das ihr beim Aufrechtstehen helfen soll und als Therapiegerät eingestuft wird. Finanziert wird das von der Sozialversicherung aber nur, wenn ein entsprechendes Geburtsgebrechen vorliegt. Tobias Iff erklärt, dass ihm als behandelnder Arzt hier oft die Hände gebunden sind: «Wir arbeiten mit der sogenannten Geburtsgebrechenliste und schauen, in welchen Paragraf das Kind passt. Hat das Kind `nur` eine Entwicklungsstörung, wie im Fall von Mira, kann diese keinem Geburtsgebrechenparagraf zugeordnet werden.» Folglich muss die IV nicht bezahlen.

Mira ist kein Einzelfall!

Der Fall von Mira steht exemplarisch für unzählige Familien, die sich mit genau dieser Problematik konfrontiert sehen. Martin Boltshauser hat in seiner 32-jährigen Karriere als Anwalt bei Procap* zahlreiche Familien beraten und sagt in seinem Einleitungsreferat: «Die Belastung ist für betroffene Eltern erheblich. Sie müssen sich mit der IV auseinandersetzen, müssten die Gesetzestexte kennen und sie müssen sich mit komplexen Anmeldeformularen herumschlagen.» Informationen, eine Anlaufstelle oder einen allgemeingültigen Ratgeber sind bei seltenen Krankheiten schwer zu finden. Dabei ist das Managen der verschiedenen Versicherungs- und Unterstützungsleistungen schon komplex, wenn das Kind eine «gültige» Diagnose hat. Fehlt jedoch eine solche Diagnose, entfallen wichtige IV-Leistungen.

«Bei der Umsetzung der Gesetze gibt es Verbesserungspotential»

«Das wäre eigentlich nicht nötig und ich denke auch nicht, dass das im Sinn des Gesetzgebers ist», betonte Dieter Widmer, geschäftsführender Direktor der IV-Stelle des Kantons Bern. Er ist deshalb auch überzeugt, dass die vielen kritischen Stimmen weniger der IV gelten, sondern vielmehr der Gesetzgebung. «Unbestritten ist, dass bei der Umsetzung der Gesetze Verbesserungspotential ist», so Widmer. So könne etwa der Bundesrat auf Ansuchen des Bundesamts für Sozialversicherungen besagte Liste so formulieren, dass nicht die Diagnose im Zentrum stehe, sondern man sich an den verschiedenen Symptomen orientieren kann. SRF Journalistin Daniela Lager, die den Anlass moderierte, fühlte Widmer auf den Zahn: «Ging es nicht schneller, wenn die IV als Vollzugsbehörde dieses Bedürfnis anmelden würde?» Seiner Meinung nach könnte es schwierig werden, dass sich die 26 IV-Stellen der Kantone da einig werden – dem Föderalismus sei Dank.

Gesetzeslücken auf den Schultern betroffener Familien

Betroffene Eltern haben für solche Gesetzeslücken oft wenig Verständnis, für sie geht es ums «Eingemachte», auch finanziell: «Eltern mit einem kranken Kind haben oft Erwerbseinbussen, weil sie ihr Arbeitspensum reduzieren müssen oder ein Elternteil seine Arbeit ganz aufgeben muss», sagt Irene Weber-Hallauer, Sozialarbeiterin. Immer wieder erlebt sie betroffene Eltern, die trotz IV und Krankenkasse durch die sozialen Maschen fallen und letztlich auf Sozialhilfe angewiesen sind.

Föderalismus – Herausforderung auch bei der Einschulung

Wie vielschichtig die Problematik bei seltenen Krankheiten ist, zeigt auch die Diskussion beim Thema Einschulung. Da stellt sich zuerst die Fragen: Regel- oder Sonderschule? Einig sind sich die Podiumsteilnehmenden, dass die Integration in die Regelschule nicht zwingend die richtige Lösung ist. Die Erfahrung zeige, dass es betroffene Kinder manchmal leichter in einer Sonderschule haben – sie hätten hier Erfolgserlebnisse und würden nicht ständig damit konfrontiert, was sie alles nicht können. Das Problem: Je nach Wohnkanton existieren keine entsprechenden Angebote. Und: «Sobald es über die Kantonsgrenzen hinausgeht, wird es kompliziert», sagte Irene Weber-Hallauer. Als Übeltäter erweist sich auch hier wieder der Föderalismus. Als Folge würden die Angebote oft den verfügbaren Mitteln statt den Bedürfnissen der Kinder angepasst werden, erläuterte Martin Boltshauser.

Case Management und weitere Unterstützungsmöglichkeiten

Was also würden die Fachpersonen (neu) betroffenen Eltern mit auf den Weg geben? In den Antworten herrschte Einigkeit: Eltern sollten sich frühzeitig Unterstützung im Umgang mit den verschiedenen Stellen holen. Was viele nicht wissen: Seit dem Jahr 2022 müssen IV Stellen ein Case Management anbieten.

Zudem existiert seit Herbst 2022 die digitale Wissensplattform des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten, die Informationen rund um Beratungsstellen und Hilfsangebote bündelt. «Wir greifen Probleme im Umgang mit seltenen Krankheiten auf, welche direkt von den betroffenen Familien an uns herangetragen werden. Zugleich zeigen wir Lösungswege auf und bieten selbst Hand zu Lösungen – wo es nötig ist, auch mit finanzieller Unterstützung», sagt Manuela Stier, Gründerin und Geschäftsführerin KMSK.

Indem der Wissenstransfer im Fokus steht, sensibilisiert der Förderverein einerseits Fachpersonen und ermächtigt betroffene Familien zugleich, dass sie Behörden, Ärzten und Experten auf Augenhöhe begegnen. «Betroffene Eltern sollen wissen, was ihre Rechte und Möglichkeiten sind, und, wo es sich lohnt zu kämpfen. Selbstermächtigung ist zentral, genauso wie das Wissen, dass man nicht allein ist», so Manuela Stier.

Manuela Stiers Referat veranschaulichte eindrücklich, was der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten in den vergangenen neun Jahren erreicht hat – dank einem einzigartigen Wissenstransfer über alle Dialoggruppen hinweg, wird dem Thema «Seltene Krankheiten» auf politischer, medialer und gesellschaftlicher deutlich mehr Gehör verschafft. Einen wichtigen Beitrag leisten hierzu etwa die fünf KMSK Wissensbücher, die in einer Gesamtzahl von 50'000 Stück kostenlos an sämtliche Dialoggruppen verteilt wurden. «Wir sehen eine unserer zentralen Aufgaben darin, die Geschichten betroffener Familien in die Öffentlichkeit zu tragen, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und ihnen eine Stimme zu verleihen», so Manuela Stier. Denn, bei all ihrem Tun geht es Manuela Stier und dem Förderverein immer um eines: Betroffenen Familien mehr Lebensqualität zu schenken!

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