Omri Ziegele spielt sein Altsaxofon auf unorthodoxe Art. Dem Zürcher geht es darum, neue Klänge zu entdecken. Diese präsentiert er einem aufmerksamen Publikum in oft selbst erkämpften kulturellen Freiräumen.
Omri Ziegele ist Saxofonist, Bandleader, Veranstalter und Vermittler in Sachen Free Music und Jazz.
Omri Ziegele ist Saxofonist, Bandleader, Veranstalter und Vermittler in Sachen Free Music und Jazz. - sda - Keystone/GAETAN BALLY
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Das Wichtigste in Kürze

  • Es ist der erste Donnerstag im Monat.

In der WIM, der Werkstatt für improvisierte Musik in Zürich, wird der Flügel zur Seite geschoben. Den Raum beherrschen nun zwei in stumpfem Winkel aufgestellte Schlagzeug-Sets. Dazwischen ein Kontrabass, Verstärker für Gitarre und E-Bass, davor Musiker-Utensilien und einzelne Notenständer. Auf dieses Setting blicken zwei schmale Stuhlreihen und drei an die Wand gerückte Hängesofas. WIM-Insider würden diese Raumsituation im Schlaf erkennen: Es ist der Abend des «Billigen Bauern».

Es war irgendwann 1995, als Omri Ziegele am Proben war. Mit Drummer Dieter Ulrich und Bassist Jan Schlegel hatte er gerade eine Grossband lanciert. Mitten in den Proben erreichte Ziegele der Anruf seiner Partnerin. Das Paar lebte zu günstiger Untermiete bei einem Bauern, der an diesem Abend abwesend war.

Ausgerechnet dann aber wollte eine Kuh kalbern, weshalb Ziegele - wie mit dem Vermieter abgemacht - in die Stiefel steigen, sprich: die Probe verlassen musste. Die Kollegen lachten: «Aha, der billige Bauer hat Stalldienst.» So kam die Grossband, die sich musikalisch noch am Finden war, zu ihrem Namen. Und seit damals gastiert der «Billige Bauer» jeden ersten Donnerstag im Monat in der WIM.

Im April 2019 steht das 323. Konzert an. Mehr noch: «Wir feiern heute den 23. Geburtstag», lächelt Omri Ziegele zur Begrüssung ins Mikrofon, das im kleinen Raum übertrieben wirkt. Dass weniger Leute auf Stühlen und Sofas sitzen als zum Musizieren angetreten sind, würde manch anderen Bandleader deprimieren. Für Omri Ziegele kein Problem. «Viel wichtiger ist, dass die meisten Stammgäste sind», sagt er nach dem Konzert. «Unsere Band arbeitet prozesshaft, und da sind mir jene Leute am liebsten, die dies mitverfolgen.»

Beim nachmittäglichen Tee räumte Ziegele zwar ein: «Solcherart Konzerte werden zunehmend schwierig. Das Publikum interessiert sich heute vornehmlich für das Resultathafte, für Hochglanz-Shows.»

Natürlich war auch er in jungen Jahren auf solche Shows angewiesen. «Wir spielten Jazz-Standards an Geschäfts-Apéros», erinnert er sich. «Dabei haben wir oft einen halben Monatslohn verdient.» Ziegeles Leidenschaft aber gilt dem freien und kollektiven Musizieren, wie er es mit dem «Billigen Bauern» tut. «Wir setzen uns keine Ziele, musizieren assoziativ. Das Spannende ist, dass man nicht weiss, wohin es geht.» Bei solchen Sessions passiere oft Grandioses, berichtet der Saxofonist und Bandleader voller Begeisterung. «Selbst wenn wir mal scheitern, scheitern wir grandios.»

Von Scheitern kann nicht die Rede sein am 323. Konzert des «Billigen Bauern». Das Kleinpublikum ist begeistert und feuert die Musiker an. Ziegele nimmt diesen Support auf und wird seinem Ruf als «explosiver» Musiker gerecht.

Um den Prozess anzufachen, übernimmt er als Bandleader anfänglich die Solistenrolle. Dabei handhabt der kleine, robuste Musiker sein Altosax nicht wie ein Instrument, vielmehr scheint er sich eine Art wucherndes Organ aus dem Mund zu blasen, zu bändigen und zugleich zu liebkosen. Zuweilen zerrt er es weit weg von seinem Oberkörper, den er zugleich hinabbeugt fast in Bodennähe. Der mit dem Sax verwachsene Musiker verwandelt sich in einen vulkanisch tobenden Klangkoloss, der sich buchstäblich die Lunge aus dem Leib speit.

Nach solch exzessiven Soli wankt Omri Ziegele erschöpft zur Seite, überlässt die brodelnde Klangszenerie seinen Kollegen, hört aufmerksam zu, lächelt. Kehrt dann zurück ins Zentrum, wo nun klar wird, weshalb dort ein Mikrofon steht. Denn nun beginnt Ziegele zu sprechen, zu rezitieren, zu singsangen. Wörter, Lautfragmente, Sätze. In Englisch, scheinbar gestammelt, nein, wiederholt in der Art eines kultisch predigenden Priesters.

Am Nachmittag musste er lachen ob des Vergleichs mit einem Priester. «Wohl eher ein Rabbi. Aber tatsächlich hat mich das Predigende stets fasziniert, ich rede mich gerne ins Feuer. Bald aber merkte ich, dass ich dies auf der Konzertbühne besser kann als auf einer Kanzel.»

Omri Ziegele ist 1959 in Israel geboren. Seine Eltern - der Vater aus Zürich, die Mutter aus Beirut - lernten sich in einem Kibbuz kennen. Als Omri dreijährig war, zog die Familie nach Zürich. «In den Kreis 4», betont er, «wo die nicht-orthodoxen Juden lebten.»

Zuhause gab es kaum Musik, der Teenager hörte Beatles und Cat Stevens. Via Flöte und Klarinette fand er zum Saxofon. «Ein Schulkollege fand ein altes Altosax auf dem Dachboden und schenkte es mir.» Da wars geschehen um Omri Ziegele. Hatte er seine Freizeit zuvor als Fussballer bei den GC-Junioren verbracht, übte er nun Saxofon wie ein Besessener.

Am Konservatorium und später am US-Musikcollege Berklee in Boston merkte er, dass Musik zwar sein Leben bestimmen würde. «Aber auf meine Art», lacht er heute. Das Institutionelle engte ihn ein. Er bevorzugte das freie Spiel und ging seinen eigenen Weg.

Beim Theaterzirkus Federlos gab er den multiplen Musikanten, im Trio Noisy Minority entdeckte er das explosive Musizieren zwischen herbem Rock, melodiösem Jazz und schriller Improvisation. Im Duo mit der Pianistin Irène Schweizer adaptierte er Thelonious Monk und Dollar Brand. Mit den Holzbläser-Kollegen Hans Koch und Urs Leimgruber gründete er das Schweizer Holz Trio.

Bei solchen Unternehmungen ging die Initiative meist von Ziegele aus. «Ich habe das Talent zu organisieren, zu kommunizieren, Geld aufzutreiben», sagt er unumwunden. Dies kam ihm zugute bei der Umsetzung seiner Maxime der ästhetischen und künstlerischen Unabhängigkeit und des Spielens gegen den Strom. «Im Gymnasium hatte ich mir geschworen, meinen eigenen Weg zu gehen», sagt Omri Ziegele und erwähnt nebenbei, dass er selbst sein Altosax unorthodox spiele. «Ich bewege mich meist in tiefen Lagen, auch meine Phrasierungen erinnern an Tenoristen wie Bob Berg oder John Coltrane.»

Ziegele wehrt sich nicht gegen das Attribut des anarchischen Musikers. Mit Stolz erzählt er von den vielen Initiativen, die er lanciert oder mitgetragen hat. Schon in den 80er-Jahren schuf sich Ziegele «Notspielstellen» im Untergrund, trat an Parties auf oder im Cafe Casablanca, wo er mit Irène Schweizer die Konzertreihe OHR gründete. «Das war unser Freiraum, wohin wir bald auch Kolleginnen und Kollegen einluden.» So wurde Ziegele zum Veranstalter, der bis zu 50 OHR-Konzerte pro Jahr organisierte.

Weitere Freiräume schuf er mit Konzertreihen im Theater Neumarkt, im Millers, im Cafe Schoffel. Ziegele engagierte sich in der WIM und war massgeblich an der Gründung des unerhört Festivals beteiligt. Letzteres hat sich als international beachteter Anlass etabliert. Doch die Konzertreihen waren oft von kurzer Lebensdauer. Ziegele betont: «Ich bin nicht einer, der aufgibt oder sich beklagt; das ist verschwendete Energie. Ich bin ein Macher und halte mich an Macher.»

Nach einer guten Stunde ist Schluss in der WIM. Die neun «Billigen Bauern» haben sich verausgabt und ein Bier verdient. Omri Ziegele ist zufrieden mit dem Jubiläumskonzert: «Wir haben voller Kreativität weitergebaut an unserem Klanggebäude.»

Ziegele spricht gerne bildlich, wenn es um Musik geht. Stilistische Etiketten vermeidet er, doch als im Redefluss einmal die Bezeichnung «Jazzer» fällt, lacht er: «Schon gut, das beleidigt mich nicht.» Und er erzählt dann, dass es ihm um mehr gehe als um Jazz, Rock oder Neue Musik. Dass er nach Jahrzehnten immer noch am Suchen sei. «Viele Leute können nicht verstehen, warum ich täglich übe. Aber ich übe sehr gerne, weil ich dabei stets neue Töne und Klänge entdecke und die musikalische Welt unendlich ist.»

www.omriziegele.ch

Verfasser: Frank von Niederhäusern, ch-intercultur

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