«Nebelkinder» erzählt eindrückliche Geschichten von Verdingkindern

Keystone-SDA
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Bern,

Der Schweizer Film «Nebelkinder» zeigt das Schicksal der Verdingkinder und ihre bewegende Geschichte.

Kino
Der Dokumentarfilm ist ab 23. Oktober in den Deutschschweizer Kinos zu sehen. (Symbolbild) - pexels

Der Schweizer Dokumentarfilm «Nebelkinder» setzt sich mit dem Schicksal von Verdingkindern auseinander. Regisseurin Corinne Kuenzli spricht über starke Emotionen, ermutigende Reaktionen und den Wert des Erzählens.

Menschen, die schweigen. Menschen, die sich schwertun mit Worten. Menschen, die zögern beim Erzählen. – Es sind solche Szenen, die dafür sorgen, dass der Film «Nebelkinder» von Regisseurin Corinne Kuenzli lange im Kopf bleibt.

Der Dokumentarfilm ist ab 23. Oktober in den Deutschschweizer Kinos zu sehen und wird begleitet von einem Buch, das eine der vier Protagonistinnen des Films geschrieben hat. Film wie Buch beleuchten ein Thema, das lange im Verborgenen geblieben ist – nicht nur bei den Betroffenen: Das Schicksal der Verdingkinder.

Corinne Kuenzli über «Nebelkinder»

Corinne Kuenzli habe zu Beginn «eine grosse Notwendigkeit verspürt, den Film zu machen». Doch: «Ich bin im Frühling 2014 naiv gestartet. Wenn ich gewusst hätte, wie lange und fordernd das sein wird, hätte ich wohl die Finger davon gelassen», sagt sie der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Am Anfang habe ein Zeitungsartikel gestanden, den Kuenzli gelesen hat. Ein Porträt über Yvonne Pfäffli vom Stadtarchiv Bern. Zuerst habe Kuenzli ein Projekt geplant, das Pfäffli ins Zentrum stellen sollte und die Dossiers der Sozialen Fürsorge 1920-1960 – über 25'000 liegen im Archiv – sowie den niederschwelligen Zugang, den Bern den Betroffenen zusichert. Daraus wurde ein Porträt jener vier Personen, die nun im Zentrum von «Nebelkinder» stehen.

Nachdem Kuenzli bei einer Ausstellung des Stadtarchivs Bern im Frühling 2015 mitgearbeitet hatte, hatte sich das Archiv bereit erklärt, allen Aktensuchenden einen Brief von ihr weiter zu leiten. «Darin fragte ich, wer bereit wäre, mich für ein Filmprojekt zu treffen», so Kuenzli. Sie habe mit etwa 20 Menschen gesprochen und Aufnahmen gemacht. Dann habe sie vier ausgewählt, die einander ergänzten.

«Nebelkinder» lebt von starken Emotionen: der Film zeigt die überforderten Elten und Ungeheuerlichkeiten, die zu ihrer Zeit als normal angesehen wurden. Trotz aller Schwere und der erlebten Härte ist bei den Betroffenen kaum Ärger auszumachen. «Ich habe es auch bedauert, dass nicht so viel Wut zum Ausdruck kommt», kommentiert Kuenzli. Vielleicht sei das ein Effekt der langen Arbeit am Film.

Kuenzli über «Nebelkinder»

Als diese 2019 startete, war die Regisseurin bereits vier Jahre im Gespräch mit den Protagonistinnen und Protagonisten. «Als wir endlich richtig zu drehen begannen, war die Wut nicht mehr so präsent.» Trotzdem sei sie noch zu spüren, allerdings richte sie sich meist zunächst nicht gegen die Behörden oder die Politik, sondern gegen den Vater oder die Mutter. «Dies kann sich ändern, wenn die Leute erfahren, was dem Vater oder der Mutter geschehen ist», so Kuenzli.

Wenn ein Dokumentarfilm zu einem solch belastenden Thema gedreht wird, kann das eine Retraumatisierung auslösen. Kuenzli war sich dessen bewusst. Ihre Mittel dagegen: Genaue Planung, viele Gespräche, klare Regeln, regelmässige Pausen. Und die Hoffnung auf die Stärke und die Motivation der beteiligten Menschen. «Aber es blieb ein schmerzhafter Prozess.»

Premiere feierte «Nebelkinder» an den Solothurner Filmtagen im vergangenen Januar. Dort hat Corinne Kuenzli erste Reaktionen erhalten. Besonders gefreut hat sie sich über zwei Menschen, die durch den Film angefangen haben, ihre eigene Geschichte zu erforschen und dann einen Solidaritätsbeitrag erhalten haben.

«Nebelkinder» soll zum Erzählen und Erkennen ermutigen

Kuenzli hofft, dass der Film den Menschen hilft, wenigstens einen Moment lang offener ihre Geschichte erzählen zu können. Dass er Mut macht, Fragen zu stellen. Sie ist überzeugt, dass immer noch viele nicht realisieren, dass auch sie Betroffene sind. Vielleicht helfe er ihnen zu realisieren, was mit ihnen geschehen sei. Das sei auch ihr so ergangen.

Als junge Frau habe sie, beeinflusst von feministischen Texten, gegenüber ihrer Mutter rundweg behauptet, dass es kein Problem sei, wenn sie als unverheiratete 15-Jährige ein Kind bekommen hätte. Es würde ja dann einfach mit am Tisch sitzen und in der Familie aufwachsen. Der Grossvater sei sichtlich geschockt gewesen, erzählt Kuenzli.

Einige Wochen später habe er ihr erzählt, dass er selber unehelich geboren worden sei. Sein Stiefvater habe seiner Mutter den Kontakt zu ihm verboten. «Es war offensichtlich, wie sehr diese Umstände sein Leben bestimmt hatten und wie sehr er immer noch darunter litt», so Kuenzli.

«Ich glaube, das über sich selbst Erzählen ist das, woraus unsere Identität entsteht. Das Erzählen ist der Versuch, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und ihm einen Sinn zu geben», sagt die Regisseurin. «Deshalb hat mehr Boden unter den Füssen, wer seine Geschichte erzählen kann.»*

* Dieser Text von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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