Experte: Rund jede zweite Tötung bleibt in der Schweiz unentdeckt
Ein Rechtsmediziner glaubt, dass in der Schweiz doppelt so viele Tötungsdelikte verübt werden als die Statistik zeigt. Der Bundesrat soll dem Problem nachgehen.

Das Wichtigste in Kürze
- Laut offizieller Statistik werden in der Schweiz jährlich rund 50 Tötungsdelikte verübt.
- Ein Rechtsmediziner glaubt aber, dass nochmals so viele pro Jahr unentdeckt bleiben.
- Das Problem liege demnach bei den Verfahren zur Feststellung der Todesart.
In der Schweiz kommt es laut offizieller Statistik zu rund 50 Tötungsdelikten pro Jahr. Christian Jackowski, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Uni Bern, glaubt aber, dass jährlich rund doppelt so viele Tötungsdelikte verübt werden, wie die «NZZ am Sonntag» berichtet. Zu dieser Dunkelziffer kam er anhand einer Studie aus Deutschland, deren Resultate er mit zwei Mitautoren in einem Artikel im Jahr 2015 auf die Schweiz übersetzte.
Die Rechtskommission des Ständerats fordert nun vom Bundesrat, dem Problem nachzugehen. Dieser soll einen Bericht darüber verfassen, wo das Problem liege und wie es sich allenfalls rechtlich lösen lasse.
Oft scheitert es schon bei der Leichenschau
Jackowski glaubt, dass die hohe Dunkelziffer mit den Verfahren zur Feststellung der Todesart zu tun habe. Diese sind aktuell in einem dreistufigen Prozess geregelt. Der erste ist die sogenannte Leichenschau, wo ein Arzt entscheidet, ob ein natürlicher Tod vorliegt oder ob die Todesursache nicht natürlicher Art oder unklar ist.
Laut Jackowski werde die Leichenschau aber oft nicht sorgfältig genug durchgeführt. So erwähnt er gegenüber der Sonntagszeitung einen Todesfall eines 27-jährigen Epileptikers. Dieser wurde vor Jahren in seiner Wohnung in Bern bewusstlos in einer Blutlache gefunden und starb danach im Spital. Der Arzt stufte es als Todesfall nach Sturz bei einem Anfall ein. Ein Rechtsmediziner stellte jedoch später fest, dass dem Opfer in den Hinterkopf geschossen worden war.

Aber auch, wenn die Leichenschau korrekt durchgeführt werde, könnten Tötungsdelikte untergehen. Meldet ein Arzt einen aussergewöhnlichen Todesfall, folgt unter der Führung der Strafprozessordnung eine Legalinspektion durch einen sachverständigen Arzt. Diese werde aber nur angeordnet, wenn es Anzeichen für einen unnatürlichen Todesfall gebe.
Im zweiten Schritt kommt es ebenfalls nur zur äusseren Untersuchung
Auch hier käme es nur zur äusseren Untersuchung der Leiche. Erst wenn es «Hinweise» auf eine Straftat gebe, würden in einem dritten Schritt weitere Untersuchungen wie zum Beispiel die Obduktion der Leiche angeordnet werden.
«Straftaten, die äusserlich nicht erkennbar sind, blendet die Strafprozessordnung einfach aus», sagt Jackowski der «NZZ am Sonntag». So müssten Rechtsmediziner ihre Arbeit oft beenden, ohne zu wissen, ob ein Toter verunfallt sei, Selbstmord begangen habe, getötet worden oder eines natürlichen Todes gestorben sei.
Deswegen spricht sich die Schweizerische Gesellschaft für Rechtsmedizin für eine Anpassung der Strafprozessordnung in diesem Bereich aus: «Die heutige Regelung ist sehr unglücklich. Sie birgt die Gefahr, dass Tötungsdelikte und andere wichtige Erkenntnisse verpasst werden», erklärt Daniel Eisenhart, Vorstandsmitglied und oberster Rechtsmediziner im Kanton Aargau. Nun soll der Bundesrat in diesem Bereich für Aufklärung sorgen.