Blatten VS: Wer zahlt für die zerstörten Häuser?

Im Kanton Wallis gibt es keine obligatorische Gebäudeversicherung – wer zahlt also für die zerstörten Häuser in Blatten VS?

Blatten
Der Gemeindepräsident von Blatten, Matthias Bellwald, sagte bei einer Pressekonferenz am Samstag, dass das Dorf wieder aufgebaut werden soll. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Bergsturz in Blatten VS hat das Dorf weitgehend zerstört.
  • Die grosse Frage: Wer zahlt für die zerstörten Häuser?
  • Nau.ch hat bei einem Versicherungsexperten nachgefragt.

Nach dem massiven Gletscherabbruch liegt Blatten VS begraben unter einem riesigen Schuttkegel. Der dahinter aufgestaute See hat zusätzlich für eine riesige Überschwemmung im Tal gesorgt.

Die Folgen: Das Dorf ist komplett zerstört – zahlreiche Menschen haben ihr Hab und Gut verloren. Noch bevor die Aufräumarbeiten überhaupt beginnen können, ist klar, dass die Schäden immens sind. Die Rede ist von mehreren hundert Millionen Franken.

Die grosse Frage: Wie sieht das versicherungstechnisch aus?

«Mehr als 90 Prozent haben eine Hausratsversicherung»

Nau.ch hat bei Harry Büsser, Immobilien- und Finanzexperte bei «Comparis» nachgefragt. Er sagt, dass laut Brancheninsidern über 90 Prozent der in den Walliser Tälern lebenden Menschen eine private Hausratsversicherung hätten. Elementarschäden wie Fels- und Bergsturz seien dort Teil der Grunddeckung.

Bei der Hausratsversicherung sei jedoch die Unterversicherung ein Problem, so der Experte. Oft werde nämlich nach teuren Neuanschaffungen, die Versicherungssumme nicht entsprechend erhöht.

Blatten
Harry Büsser ist Immobilien- und Finanz-Experte bei Comparis. Er beantwortet die versicherungstechnischen Fragen zu Blatten. - Comparis.ch

Büsser gibt ein Beispiel: «Man hat im Hausrat Dinge, im Gegenwert von 100'000 Franken, aber die Versicherungssumme ist auf 80'000 Franken. Das bedeutet, man ist nur zu 80 Prozent versichert. Wenn nur Hausrat im Wert von 10'000 Franken kaputtgegangen ist, muss die Versicherung in dem Fall nur 80 Prozent übernehmen.»

Was im Kanton Wallis speziell ist: Es gibt keine obligatorische Gebäudeversicherung. Wer sich versichern will, muss freiwillig eine Police bei einer Versicherung abschliessen. Der Walliser Staatsrat geht nach ersten Schätzungen demnach davon aus, dass die meisten Häuser versichert sind.

«Es gibt bei der Auszahlung mehrere Stolpersteine»

Wie der Comparis-Experte weiter erklärt, gibt es bei der Auszahlung von Versicherungsleistungen nach einem Totalschaden mehrere Stolpersteine. Harry Büsser erwähnt einerseits die Wiederaufbaupflicht: «Viele Gebäudeversicherungen zahlen den vollen Neuwert (Wiederaufbauwert) nur, wenn das Gebäude wieder aufgebaut wird. Und zwar auf demselben oder einem vergleichbaren Grundstück.»

Sei dies aufgrund von Bauverboten, Schutzmassnahmen oder Gefahrensituation nicht möglich, werde oft nur der Zeitwert oder ein reduzierter Betrag ausbezahlt. «In Blatten ist meines Wissens noch nicht klar, wo genau ein Wiederaufbau möglich sein wird.»

Als weiterer Stolperstein erwähnt Büsser die Unterversicherung – wie schon oben beschrieben – und ausserdem die «Dokumentation»: «Bei einem Totalschaden, wie aktuell in Blatten, ist es oft schwierig, den Zustand vor dem Ereignis zu dokumentieren.» Das könne die Schadenregulierung verlangsamen oder komplizieren – besonders bei Hausrat.

«Die Versicherungen dürften hier aber entgegenkommend sein», so Büsser.

Wer zahlt die Mehrkosten für Betroffene in Blatten?

Für die rund 300 Einwohner von Blatten dürfte aber längst nicht nur der Schaden am eigenen Zuhause für Kopfschmerzen sorgen. Es werden temporäre Mehrkosten wie Miete oder Ersatzanschaffungen anfallen. Auch hier können Versicherungen den Geschädigten unter die Arme greifen – jedoch laut Comparis-Experte Büsser nur im Rahmen definierter Zusatzdeckungen.

So decke etwa eine Zusatzdeckung in er Hausratsversicherung teilweise Ersatzanschaffungen, Hotel- oder Mietkosten ab. Jedoch doch meist nur «zeitlich begrenzt und gedeckelt». Weiter würden auch bei der privaten Gebäudeversicherung einige Policen vorübergehend Unterkunftskosten übernehmen, wenn das versicherte Haus unbewohnbar sei.

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So sah Blatten VS am Freitagnachmittag von oben aus. Das Dorf im Lötschental soll nach der Katastrophe wieder aufgebaut werden. - Nau.ch/Nico Leuthold

Der Comparis-Experte verweist weiter auf Hilfe durch karitative Institutionen: «Caritas, das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) und andere Hilfswerke bieten teilweise Soforthilfe oder Unterstützung für unversicherte Betroffene.» In diesem Zusammenhang sammelt auch die Glückskette Geld für die Betroffenen. Laut der Organisation ist die «Anteilnahme» sehr gross – erste Zahlen sollen nach dem Wochenende veröffentlicht werden.

Nicht zuletzt könnten Betroffene auch auf Härtefallfonds hoffen. Büsser: «Falls keine oder nur unzureichende Versicherung besteht, könnten Gemeinde, Kanton oder Bund im Rahmen eines Härtefallfonds oder Notstandsverordnung einspringen.» Dies sei jedoch nicht garantiert und teils umstritten.

«Absicherung für Gewerbe- und Landwirtschaftsbetriebe oft komplexer»

Auch Gewerbebetriebe und landwirtschaftliche Betriebe werden wegen des Gletscherabbruchs in Blatten enorme Schäden davon tragen. Laut Harry Büsser ist die Absicherung in diesen Fällen oft komplexer. Sachschäden – also Gebäude, Maschinen, Vorräte – würden etwa nur versichert, wenn eine freiwillige Gewerbepolice bestehe. Lücken seien möglich, weil kein Obligatorium gelte.

Weiter würden einige Versicherer zwar «Betriebsunterbruch-Elementarversicherungen» für bestimmte Branchen anbieten. Diese seien aber teuer und würden selten genutzt. Und: «Sie decken nur Unterbrüche nach einem eigenen Sachschaden

Hast du schon für Blatten gespendet?

Auch für die Bauern dürfte der Gletscherabbruch für schlaflose Nächte sorgen, denn diese hätten zwar häufig eine Hagel- oder Tierseuchenversicherung. Doch gegen Berg- oder Erdrutsch fehle meist ein spezifischer Schutz.

Zumindest könnten Gewerbe- und Landwirtschaftsbetriebe auf öffentliche Unterstützung hoffen. «Analog zu Covid-Härtefallgeldern könnten Bund und Kanton Überbrückungs-kredite oder A-fonds-perdu-Beiträge ausrichten.» Das sei derzeit in Abklärung, so Büsser, «ist jedoch eine politische Entscheidung».

«Ereignis dürfte versicherungs- und sozialpolitische Debatten auslösen»

Comparis-Experte Harry Büsser betont, dass in der Schweiz kein flächendeckender Schutz für naturkatastrophenbedingte Betriebsausfälle bestehe. «Das Ereignis in Blatten dürfte daher auch versicherungs- und sozialpolitische Debatten auslösen.»

Für die Betroffenen soll demnächst zumindest mal eine Anlaufstelle für finanzielle Hilfe sowie Unterstützung bei der Wohnungssuche bereitgestellt werden. Das sagte der Gemeindepräsident Matthias Bellwald am Samstag vor den Medien.

Kommentare

User #4463 (nicht angemeldet)

Hmmm, ? Also die ganzen Messgeräte am Berg und die Überwachung, fand ja sicher nicht statt, bloss weils Spass macht. Wer da auf eine Versicherung verzichtet oder eine starke Unterdeckung aufweist, ist das Risiko doch bewusst eingegangen. Das ganze war auch nicht gratis. Und als Steuerzahler wird von uns sicher auch die Wiederherstellung der Infrsstruktur bezahlt, falls Blatten wieder aufgebaut wird. Der Rest sollte genauso wie die Ersparnis einer nicht abgeschlossenen Versicherung gehandhabt werden, also Privat. Zinnsloser Überbrückungskredit, das würde Sinn machen. Der Rest, so traurig Einzelschicksale auch sein mögen, sollte was Privatbesitz betrifft auch so verbleiben.

User #4670 (nicht angemeldet)

Man kann zwar ein Einzelereignis nicht direkt mit dem Klimawandel erklären, aber man kann durchaus beobachten, dass Ereignisse wie Schuttströme, Erdrutsche, Steinschläge, Überschwemmungen usw. in den Schweizer Alpen in den letzten Jahrzehnten häufiger geworden sind. Und man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass dies auf den Klimawandel zurückzuführen ist. Es ist nur schwierig, diesen Zusammenhang für ein einzelnes Ereignis herzustellen, da solche Ereignisse seit Anbeginn der Zeit vorkommen und wir nicht wissen, was ohne den Klimawandel passiert wäre. Aber es ist doch recht klar, dass das Abschmelzen des Gletschers und des Permafrosts wichtige Faktoren sind, die zu dieser Katastrophe geführt haben, und diese stehen in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel (der natürlich menschengemacht ist, daran besteht wissenschaftlich überhaupt kein Zweifel).

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