Wie Erdogans Gegner ausgeschaltet werden
In der Türkei spitzt sich die politische Krise zu: Nach der Absetzung von Istanbuls Bürgermeister Imamoglu wurden erneut Oppositionspolitiker festgenommen.

Nach mehreren Festnahmen führender Oppositionspolitiker und deren Amtsenthebungen spitzt sich die politische Krise in der Türkei weiter zu. Das Innenministerium teilte auf der Plattform X mit, dass der Bürgermeister der Grossstadt Adana und der stellvertretende Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Büyükcekmece – beide Politiker der Oppositionspartei CHP – vorläufig des Amtes enthoben worden seien.
Sie waren zuvor wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet worden. Seit der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu im März abgesetzt worden war, mehren sich Vorgänge, die Beobachter als systematische Schwächung der Opposition und kritischer Stimmen im Land werten. Der populäre Politiker Imamoglu galt als ernstzunehmender Herausforderer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für die Präsidentschaftswahl 2028.
Dass er des Amtes enthoben werden könnte, war vielfach befürchtet, aber für unwahrscheinlich gehalten worden. Auf Imamoglus Festnahme und Absetzung folgte eine Kaskade von Verfahren: Inzwischen sitzen mindestens 15 Bürgermeister der grössten Oppositionspartei CHP im Gefängnis, in einigen Fällen wurden Treuhänder eingesetzt. Parteichef Özgür Özel droht neben Strafen wegen Präsidentenbeleidigung auch die Absetzung als Parteichef – was einen Höhepunkt in der Krise markieren würde.
Angriff auf «grundlegende politische Rechte»
Die Behörden gehen aber nicht nur gegen die CHP vor. In den vergangenen Monaten wurde eine Managerin bekannter Schauspieler verhaftet, hochrangige Wirtschaftsvertreter wurden nach einer regierungskritischen Rede erst festgenommen und dann mit einer Ausreisesperre belegt. Auch mehrere Journalisten wurden mit Verfahren überzogen. «Wir leben in einer Zeit, in der selbst die grundlegendsten politischen Rechte angegriffen werden», kommentierte der politische Analyst Berk Esen kürzlich die Festnahme eines Journalisten wegen eines Beitrags auf X.
Glaubt man dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, dann ist die Gründungspartei des Landes, die vor allem städtische, gebildete und laizistische Wählerschichten vertritt, nicht viel mehr als eine kriminelle Vereinigung. Es vergeht kaum eine Rede, in der Erdogan die Partei nicht mit neuen Vorwürfen belegt. Ob an den Vorwürfen gegen die CHP etwas dran ist, ist fraglich – aber: Korruption ist ein verbreitetes Problem. Dass diese aber immer nur bei politischen Gegnern der Ak-Partei ans Licht kommt, schürt bei vielen das Misstrauen in die ohnehin stark eingeschränkte Rechtsstaatlichkeit im Land.
Zustände wie in Russland?
Viele Umfragen sehen die CHP momentan als stärkste Kraft im Land. Seit den Kommunalwahlen 2019 konnte die CHP wichtige Grossstädte wie Istanbul und Ankara gewinnen und tritt zunehmend als ernstzunehmende Alternative zur regierenden AKP auf. Konnte der Staatschef die Präsidentschaftswahl 2023 noch für sich entscheiden, landete seine Partei bei den landesweiten Lokalwahlen 2024 – auch wegen einer immer weiter eskalierenden Inflation und Preissteigerung im Land – erstmals in ihrer Geschichte nur auf dem zweiten Platz. Und das, obwohl die CHP in einem Land, in dem die überwältigende Mehrheit der Medien unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung stehen, im Wahlkampf strategisch benachteiligt wurde.
Die verlorenen Stimmen hole sich die AKP nun mit repressiven Mitteln zurück und stemme sich so gegen ihr eigenes Ende, meinen Beobachter. Der Journalist Timur Soykan, der selbst zwischenzeitlich wegen Kritik an der Regierung festgenommen wurde, sagte kürzlich in einem Programm auf YouTube, Erdogan wolle die grösste Oppositionspartei schwächen, gleichzeitig arbeite er an einem Friedensprozess mit der PKK, um die Unterstützung der Kurden zu erhalten. So hoffe Erdogan die nötigen Stimmen für eine Verfassungsänderung zu sammeln, lebenslang Präsident zu bleiben und ein ähnliches System wie in Russland zu schaffen.
Die Schwachstelle der Opposition
Doch zur Schwächung der CHP könnte auch ein Machtkampf beitragen, der Erdogan in die Hände spielt. Wegen des Vorwurfs des Wahlbetrugs könnte das Ergebnis des CHP-Parteitags vor zwei Jahren annulliert werden. Damals wurde Özel mit deutlicher Mehrheit zum Parteichef gewählt und löste seinen erfolglosen Vorgänger Kemal Kilicdaroglu nach mehr als zehn Jahren an der Spitze ab. Özel hatte die CHP neu aufgestellt und verjüngt, was massgeblich zum Erfolg bei den Kommunalwahlen beigetragen haben soll. Kommt die Beschwerde durch, könnte Kilicdaroglu wieder als Parteichef der CHP eingesetzt werden – ein schwacher und damit leichter Gegner für Erdogan.
Kritik aus der EU und Deutschland bleibt verhalten
Nach Ansicht von Analyst Esen stellen die Verhaftungen «den schwerwiegendsten Machtgriff einer zivilen Regierung seit dem Übergang zum Mehrparteiensystem im Jahr 1950 dar». Doch besonderen Druck aus Deutschland, der EU oder gar aus den USA hat Erdogan zurzeit nicht zu befürchten. Zu US-Präsident Donald Trump pflegt er gute Beziehungen. Mit der Schwächung des Iran, der neutralen Positionierung im Ukraine-Krieg und des Umsturzes in Syrien hat das Nato-Land Türkei zudem an Einfluss in der Region gewonnen. In den unruhigen Zeiten will man es sich mit dem Land, das die zweitgrösste Armee der Nato stellt, nicht verscherzen.