Briefe, die nie ankamen – Angehörige von NS-Opfern gesucht

Keystone-SDA
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Deutschland,

Kurz vor ihrer Hinrichtung im Gefängnis München-Stadelheim schrieben die Verurteilten letzte Briefe an ihre Familien, die oft nicht ankamen.

Briefe
Im Staatsarchiv München werden über 50 Abschiedsschreiben von zum Tode verurteilten Personen aus der NS-Zeit aufbewahrt. (Archivbild) - keystone

Sie schrieben kurz vor ihrer Hinrichtung in der Haftanstalt München-Stadelheim letzte Worte an Mütter, Ehepartner oder Kinder – doch die Briefe wurden oft nicht zugestellt.

Mehr als 50 Abschiedsbriefe solcher von im NS-Regime zum Tode verurteilten Menschen werden im Staatsarchiv München aufbewahrt. Mit einem europaweiten Suchprojekt wollen die Staatlichen Archive Bayerns und die Arolsen Archives Hinterbliebene nun ausfindig machen.

Abschiedsworte aus den Todeszellen der Haftanstalt

«Liebe Tante und Taufpatin! Ich schreibe Euch einen letzten Brief, denn heute am 2.11.42 um 5 Uhr nachmittags geht mein Leben zu Ende», beginnt etwa ein Schreiben des Inhaftierten Jan Stephinak. «Wie Ihr wisst, gehe ich unschuldig in den Tod, weil die Strafen für Polen so sind.» Nur wenige Minuten später war der 19-Jährige laut Akte tot.

Zugestellt wurde der Brief nie – denn er liegt bis heute einer von 844 Hinrichtungsakten bei, die die Grausamkeit der NS-Diktatur dokumentieren und die Interessierte im Staatsarchiv einsehen können. Bei einem Pressegespräch am Mittwoch wurden ein paar der Briefe gezeigt.

Johannes Fleischmann aus Fürth schrieb im November 1941 an seine Mutter: «Wen das Urteil vollstrekt wird, so kann ich mit ruhigem Gewissen sagen. Ich bin der angebliche Dieb, Aber das Gericht sind die Mörder».

Zwei Franzosen namens René Blondel und Victor Douillet richteten einen Abschiedsbrief nicht an Angehörige, sondern an den Gefängnisdirektor – ob sie «Herr Diktator» oder «Herr Direktor» in ihrer Anrede schrieben, ist – wohl mit Absicht – nicht klar lesbar. Unter anderem folgten diese Worte: «sie können diesen Brief an Hitler schicken und ihm sagen: alle franzosen scheissen auf euch».

«Für die Familien kann das ungeheuer wichtig sein»

Mit einem europaweiten Netzwerk von Freiwilligen wird nun nach den Adressaten der Briefe und den Familien gesucht, auch über soziale Medien. «Die Menschen in den Todeszellen nutzten ihre letzten Stunden meist, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden», sagte die Direktorin der Arolsen Archives, Floriane Azoulay.

«Unsere Aufgabe heute ist es, die Adressaten der Briefe und die Angehörigen zu suchen, um den zu Unrecht Verurteilten ihren letzten Wunsch zu erfüllen, denn das wurde damals nicht gemacht. Für die Familien kann das ungeheuer wichtig sein.»

Die Arolsen Archives sind nach eigenen Angaben das weltweit grösste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Das internationale Zentrum über NS-Verfolgung sitzt in Bad Arolsen im deutschen Bundesland Hessen.

In Kürze wolle man mit zwei Familien in Polen Kontakt aufnehmen, erklärte Azoulay. Die Angehörigen sollen auf Wunsch Kopien der Briefe erhalten. Das Staatsarchiv München hatte die Akten zuvor systematisch durchgesehen, digitalisiert und die Abschiedsbriefe identifiziert. Der Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, Bernhard Grau, sagte, den Hingerichteten sollten nun Gesicht, Namen und Stimme verliehen werden.

Hingerichtete Opfer zwischen 19 und 81 Jahren

Die meisten der in München-Stadelheim hingerichteten Frauen und Männer, von denen Abschiedsbriefe überliefert sind, stammten demnach aus Deutschland. Aber auch Menschen aus Polen, Frankreich, Tschechien und weiteren europäischen Ländern zählen zu den Opfern. Sie waren zwischen 19 und 81 Jahre alt.

Die Haftanstalt München-Stadelheim war laut den Staatsarchiven im Nationalsozialismus eine «zentrale Hinrichtungsstätte» und zählt damit zu den Hauptorten des NS-Unrechts in München. Mehr als 1000 Menschen wurden demnach dort bis 1945 hingerichtet, meist mit einem Fallbeil. Unter den Opfern waren auch Mitglieder der Widerstandsgruppe Weisse Rose, darunter die Geschwister Hans und Sophie Scholl.

Drakonische Strafen für kleinere Delikte

Zwischen 1933 und 1945 wurde die Justiz für die Ziele des NS-Regimes instrumentalisiert und damit Teil des Unrechtssystems. Für den Machterhalt und zur Einschüchterung der Bevölkerung wurden für kleinere Delikte drakonische Strafen verhängt.

Die Vorwürfe lauteten etwa «Herabsetzung des Deutschtums» oder «Äusserungen gegen den Nationalsozialismus». Andere Menschen wurden wegen ihres Glaubens oder politischen Engagements verfolgt.

Kommentare

User #5715 (nicht angemeldet)

Bekommen die Inter-NS Opfer auch ein Brief? Oder nur die Steuerrechnung??

User #1629 (nicht angemeldet)

Diese Briefe waren so viele Jahre nicht wichtig, aber jetzt plötzlich doch. Lange Zeit, sich erst jetzt darum zu kümmern. Die nächsten Angehörigen sind vermutlich alle tot.

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