Die Türkei sieht kurdische Milizen als Drahtzieher eines Anschlags in Istanbul – und greift deren Stellungen in Syrien und Irak an. Auch der Iran attackiert Kurden im Nachbarland Irak. Ein Zufall?
Menschen begutachten Schäden in einem Gebiet um ein Elektrizitätswerk nach türkischen Luftangriffen. Die Türkei hat bei Luftangriffen in der Nacht eigenen Angaben zufolge 89 Ziele in Nordsyrien und im Nordirak «zerstört».
Menschen begutachten Schäden in einem Gebiet um ein Elektrizitätswerk nach türkischen Luftangriffen. Die Türkei hat bei Luftangriffen in der Nacht eigenen Angaben zufolge 89 Ziele in Nordsyrien und im Nordirak «zerstört». - Baderkhan Ahmad/AP/dpa

Seit Tagen geht die Türkei gegen Kurdenmilizen in Nordsyrien und im Nordirak mit Luftangriffen vor.

Dutzende Menschen starben. Russland und die USA, die als wichtige Parteien im syrischen Bürgerkrieg Teile des dortigen Luftraums kontrollieren, hatten vor der lang angekündigten Offensive gewarnt. Zur gleichen Zeit greift auch der Iran Kurden im Nordirak an. Wie hängt das alles zusammen und wer profitiert? Ein Überblick.

Warum greift die Türkei jetzt an und mit welchem Ziel?

Die Türkei nennt ihre Angriffe auf kurdische Milizen in Syrien und Irak «Vergeltung» für einen Anschlag am 13. November in Istanbul mit sechs Toten. Dafür macht sie die syrische Kurdenmiliz YPG und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK verantwortlich. Die offizielle Darstellung wird durchaus angezweifelt. Einige Beobachter vermuten wahltaktisches Vorgehen hinter den Angriffen auf kurdische Stellungen, die der Regierung Stimmen aus dem nationalistischen Wählermilieu bringen könnten. Die Türkei hält nach vier früheren Militäroffensiven zudem bereits Grenzgebiete im Norden Syriens besetzt. Auch kurdische Milizen kontrollieren grosse Teile im Norden des Bürgerkriegslandes. Experten vermuten, Ziel der türkischen Regierung könnte sein, diese dort zu verdrängen und einen breiten Grenzstreifen komplett unter türkische Kontrolle zu bringen.

Was ist der Hintergrund des Konflikts?

Im jahrzehntealten Konflikt zwischen PKK und dem türkischen Staat sind Tausende Menschen getötet worden. Ankara geht in der Südosttürkei und im Nordirak regelmässig mit Militäreinsätzen gegen die PKK vor. Diese wiederum verübt immer wieder Anschläge vor allem auf türkische Sicherheitskräfte. Es kommen aber auch Zivilisten dabei ums Leben. Die Türkei wirft der PKK vor, mit Terror die nationale Sicherheit und Einheit zu gefährden. Die PKK argumentiert, sie kämpfe unter anderem für die «Rechte der Kurden» und gegen Unterdrückung. 2015 war ein Friedensprozess zwischen Türkei und PKK gescheitert.

Warum greift auch der Iran die Kurden an?

Es ist unklar, ob es einen Zusammenhang zwischen den zeitgleichen Angriffen beider Länder auf kurdische Stellungen im Nordirak in den vergangenen Tagen gibt. Während die Türkei ihre Offensive am Sonntag begann, greifen Irans systemtreue Revolutionsgarden (IRGC) bereits seit Wochen kurdische Ziele im Nachbarland mit Raketen und Drohnen an. Experten sehen darin vor allem ein innenpolitisches Kalkül. Nachdem Mitte September die iranische Kurdin Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam gestorben war, breiteten sich ausgehend von den Kurdenregionen Demonstrationen wie ein Lauffeuer aus. Es sind die schwersten Proteste im Land seit Jahrzehnten. In Teheran wächst dabei auch die Angst vor Separatistenbewegungen. Sicherheitskräfte gehen in den kurdischen Landesteilen besonders brutal gegen Demonstranten vor.

Wie reagiert Russland auf die Offensiven?

Die Reaktion auf die türkischen Angriffe fiel in Russland bemerkenswert zurückhaltend aus – obwohl Ankara Moskau vorab nicht einmal darüber in Kenntnis gesetzt hatte. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte lediglich, es gebe zwischen Russland und der Türkei «manchmal Meinungsverschiedenheiten». Moskau unterstützt im Krieg in Syrien Präsident Baschar al-Assad, die Türkei Rebellengruppen. Der Syrien-Beauftragte des russischen Präsidenten, Alexander Lawrentjew, mahnte die Türkei, «von einer exzessiven Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen».

In russischen Medien wurde darüber spekuliert, ob Erdogans Alleingang zu einer Gefahr für Moskaus Interessen in der Region werden könnte. Asli Aksoy vom Centrum für Türkeistudien (CATS) in Berlin wiederum interpretierte die russische Zurückhaltung so: «Russland braucht die Türkei für den Weiterkauf ihrer Exportprodukte und ist in der Ukraine ziemlich beschäftigt.»

Russland braucht aber nicht nur die Türkei, sondern auch den Iran als Partner. In dem bereits seit neun Monaten andauernden und aus Kreml-Sicht von vielen militärischen Niederlagen geprägten Krieg gegen die Ukraine setzt Moskau seit Wochen verstärkt iranische Kampfdrohnen ein.

Was sagen die USA?

Die US-Regierung zeigt sich besorgt über die Angriffe. Sie könnten die Fähigkeiten der Kurden einschränken, weiter gegen den Islamischen Staat zu kämpfen, warnte Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats im Weissen Haus, John Kirby. Die USA unterstützten die Kurden im Kampf gegen den IS, dessen Zellen im Land noch immer aktiv sind. Die Türkei sei zugleich einer «terroristischen Bedrohung ausgesetzt», räumte Kirby mit Blick auf die PKK ein. «Sie hat natürlich jedes Recht, sich und ihre Bürger zu verteidigen.»

Nahost-Expertin Aksoy erklärt die verhaltene Reaktion der USA auf die Angriffe auf ihre Partner in Syrien folgendermassen: Washington rechne der Türkei ihre Vermittler-Rolle im Ukraine-Krieg hoch an. Ausserdem hofften die Vereinigten Staaten, dass die Türkei die Mitgliedschaften Schwedens und Finnlands in die NATO genehmigt. Die Kurden fordern derweil eine klare Haltung von US-Präsident Joe Biden zur türkischen «Aggression», wie ein Sprecher der von Kurdenmilizen angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) der dpa sagte.

Was sind mögliche Zukunftsszenarien?

Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt vorerst keine Deeskalation erwarten. Er hofft eigenen Aussagen zufolge, die kurdischen Milizen «alle auszurotten». Experten gehen davon aus, dass sich die Türkei in ihrer Position international derzeit gestärkt fühlt und nun forscher eigene Interessen durchsetzen wird. Die YPG hatte zu einem früheren Zeitpunkt angekündigt, den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat auszusetzen, sollte die Türkei sie angreifen.

Dass die Mehrheit der Iraner durch die Angriffe auf kurdische Stellungen im Nachbarstaat von ihrer Wut auf die repressive Politik im eigenen Land abgelenkt werden, scheint derzeit unwahrscheinlich. Die politische Führung dürfte sich genau überlegen, ob ein grösserer Konflikt in der Region in ihrem Interesse steht. Gleichzeitig droht Teheran der Zentralregierung in Bagdad, von denen sie eine entschlossene Haltung gegen kurdische Separatisten im Nordirak fordert.

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