Kollaps an der Küste? - Europäische Häfen und der Brexit
Das Wichtigste in Kürze
- An keinem anderen Ort ist Grossbritannien dem europäischen Festland so nahe, an guten Tagen kann man sie von hier aus sogar sehen - die berühmten Kreidefelsen von Dover.
Kein Wunder, dass die französische Hafenstadt Calais der wichtigste Zugang zum Vereinten Königreich ist. Die Strasse von Dover - die engste Stelle des Ärmelkanals - überqueren nach Angaben des französischen Hafens jedes Jahr mehr als 40 Millionen Tonnen Waren und zwei Millionen Lkw.
Ein Brexit ohne Abkommen, der am 12. April droht, könnte all das gehörig durcheinanderwirbeln - denn dann liegt die Aussengrenze der EU auch im Hafen von Calais. Das heisst, dass jeder Container und jeder Lkw von und nach Grossbritannien Zollpapiere braucht. Es drohen Kontrollen, Lieferengpässe und lange Staus.
Von all dem will der Hafenchef von Calais nichts hören. «Es wird keine Probleme geben», verspricht Jean-Marc Puissesseau. Er hat einen ausgedruckten Plan dabei, es ist alles genau eingezeichnet - ein neuer Parkplatz für wartende Lkw hier, ein Kontrollbereich für Tiere da. «Wir bereiten uns seit einem Jahr auf einen No-Deal-Brexit vor, wir sind bereit», sagt Puissesseau und gibt sich überzeugt: Mit längeren Wartezeiten müsse niemand rechnen, solange die Spediteure die Zollpapiere vorher ausfüllen.
Der Plan sei es, die Lkw-Fahrer Richtung Grossbritannien zu fragen, ob sie Papiere dabei haben, erklärt Puissesseau. «Wenn sie «Ja» sagen, verlassen wir uns drauf. Es gibt dann nicht mehr Kontrollen als heute - höchstens Stichproben.» Für Lkw ohne Zollpapiere gebe es einen neuen Parkplatz mit 200 Stellplätzen, dort könnten die Papiere dann ausgefüllt werden. Auch beim Import sieht Puissesseau kaum Probleme.
Sechs Millionen Euro hat der Hafen in die neue Infrastruktur investiert. Auch die französische Regierung hat im Januar 50 Millionen Euro für französische Flughäfen und Häfen bewilligt. Hunderte neue Zollbeamte werden eingestellt. Und dennoch: Einen Vorgeschmack auf den Brexit bekommt Calais schon jetzt.
Seit Wochen behindert ein Bummelstreik der französischen Zollbeamten den Verkehr. Die Zöllner machen Dienst nach Vorschrift - und kontrollieren ganz genau. Die Folge: Kilometerlange Staus, sogar die Eurostar-Züge zwischen Paris und London fallen immer wieder aus. Mit ihrer Aktion wollen die Beamten zeigen, dass Frankreich auf den Austritt der Briten nicht ausreichend vorbereitet ist.
Und interessant ist auch: Noch vor einem Jahr hat der Hafen von Calais noch ganz andere Töne angeschlagen. Puissesseau warnte vor langen Staus. «Wir wollten wahrgenommen werden», erklärt der Hafenchef das heute.
Doch wie realistisch sind die Versprechungen? «Ich warne vor Hysterie. Natürlich wird es Staus geben, egal wie man es letztendlich macht. Ich erwarte eine spürbare Verzögerung, aber kein Chaos», sagt Prof. Martin Schmidt-Kessel von der Universität Bayreuth. Der Jurist beschäftigt sich mit den Folgen des Brexits.
Hafenchef Puissesseau geht davon aus, dass sich an der Bedeutung von Calais für den Warenverkehr nichts ändern wird: «Wir sind die wichtigste Verbindung nach Grossbritannien», betont er. Doch sollte es wirklich zu langen Staus kommen, könnten Spediteure auf andere Häfen ausweichen. «Dann müssen Firmen entscheiden, ob es vielleicht Sinn macht, die Fähren in Rotterdam oder sogar Cuxhaven zu nutzen», sagt Steffen Behm vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Es sei dann einfach eine betriebswirtschaftliche Entscheidung «Was ist günstiger: Länger auf der Fähre oder in Calais im Stau bei der Abfertigung?»
Doch geht es woanders dann wirklich schneller? Auch am Rotterdamer Hafen bereitet man sich seit Monaten auf den Brexit vor. Täglich verteilen die Mitarbeiter Informationsbroschüren und Handzettel in acht Sprachen an Lkw-Fahrer. Doch trotz der massiven Kampagne ist man hier weniger optimistisch - und schliesst ein Chaos nach einem Brexit nicht aus. «Wir haben uns zwar maximal vorbereitet», sagte Manager Mark Dijk. «Aber wir fürchten, dass das längst nicht für alle Unternehmer gilt.» Europas grösster Hafen geht vom schlimmsten Szenario aus, und das ist ein Brexit ohne Deal.
Alle Exporteure müssen ihre Fracht im vollautomatischen System «Portbase» registrieren, wenn sie die neue EU-Aussengrenze überqueren wollen. «Bei einem Lkw-Fahrer, der online nicht autorisiert ist, bleibt die Schranke automatisch geschlossen», warnt Portbase-Direktor Iwan van der Wolf. Der Hafen schätzt, dass täglich rund 400 Lkw an einem der Terminals der England-Fähren stranden werden.
Vorsorglich wurden bereits fünf zusätzliche Not-Parkplätze für insgesamt rund 700 Lkw in Nähe der Terminals angelegt. Dort können die Fahrer maximal 24 Stunden stehen. Verkehrsministerium und Kommunen fürchten den totalen Verkehrsinfarkt nicht nur im Hafengebiet, sondern auch auf den Zufahrtswegen, in der Stadt und den umliegenden Dörfern.
Der niederländische Zoll wird zusätzlich 900 Mitarbeiter anstellen. Denn er erwartet, dass mehr als 10.000 Schiffe und zehn Millionen Passagiere pro Jahr extra kontrolliert werden müssen. Experte Schmidt-Kessel ist sich sicher: «Es wird keinen Weltuntergang geben, aber es wird richtig rumpeln - und das wird richtig teuer.»