«Blutiges Regime» – Belarus in Aufruhr wegen Machthaber Lukaschenko
In Minsk bebt der Unabhängigkeitsplatz fast unter den kraftvollen Sprechchören der Gegner von Alexander Lukaschenko. «Freiheit, Freiheit!», «Uchodi!» (Hau ab) und «Es lebe Belarus» rufen die Menschen – es sind die Protestrufe der Demokratiebewegung. Wieder Hunderttausende sind es am Sonntag, die ein Ende der «letzten Diktatur Europas» fordern. Ein beispielloser Zusammenhalt von Bürgern aller Schichten, die das auch 30 Jahre nach Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums noch sowjetisch geprägte Land erschüttern.

Das Wichtigste in Kürze
- Wie eine Welle gehen die donnernden Rufe durch das Stadtzentrum.
Nur für einen Moment wird alles still – um 15.30 Uhr Ortszeit. Eine Schweigeminute für die Opfer der Revolution in Belarus. Die Zahl der bekannten Todesfälle steigt an diesem Wochenende auf vier, als ein seit dem 12. August vermisster Mann gefunden wird. Hunderte Menschen kurieren zudem ihre Verletzungen, die sie bei der blutigen Polizeigewalt der ersten Protesttage davontrugen.
«Ich will ein Ende dieses Terrors, endlich frei leben», sagt die 52 Jahre alte Historikerin Swetlana. Sie weint. Ja, sie habe auch Angst. Sie und ihr Mann könnten nicht schlafen aus Sorge darum, was kommt. «Dieses Regime, dieser Diktator und seine Leute haben so viel Blut an den Händen», sagt sie. Sie hoffe, dass Europa helfe.
Die Proteste in Minsk sind keine antirussischen oder pro-europäischen. Es gibt keine EU-Flaggen. Es sind die weiss-rot-weissen Fahnen, die das Bild auf der Strasse bestimmen, die historische Flagge von Belarus, die bisher vor allem Nationalisten für sich nutzten. Längst ist die Fahne aber zu einem Symbol eines neuen Belarus geworden – es sind die Farben der Revolution.
Zwei Wochen nach der von der EU verurteilten Präsidentenwahl, bei der Lukaschenko sich zum sechsten Mal zum Sieger ausrufen liess, gehen die Menschen in dem kleinen Land zwischen EU-Mitglied Polen und Russland auf die Strasse. Täglich. Und friedlich. Die Sonntagsdemonstrationen sind seit der ersten Auflage vorige Woche die grössten überhaupt. Trotz Drohungen der Polizei und des Militärs, die von illegalen Aktionen sprechen, fassen die Menschen ihren Mut zusammen. Und sie übertönen die Lautsprecherdurchsagen der Polizei.
Die Menschen folgen den Protestaufrufen der Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja, die aus ihrer Sicht Siegerin der Wahl gegen Lukaschenko am 9. August ist. «Natürlich ist sie keine Präsidentin, aber ein Symbol für etwas Neues», sagt die 54-jährige Tatjana bei einer Kundgebung am Samstag. Tichanowskaja sendet vor allem Aufrufe per Video aus ihrem Exil in Litauen. Tatjana hofft auf Neuwahlen und eine Kandidatur des unter Lukaschenko inhaftierten Ex-Bankenchefs Viktor Babariko.
Die Buchhalterin steht mit ihrer Tochter und dem Enkelkind im Kinderwagen vor dem zentralen Komarowski Markt und diskutiert mit zwei Männern, einem jungen und einem alten. Beide unterstützen Lukaschenko. Sie schimpfen, die Frauen wollten nur Unruhe stiften. Szenen wie diese gibt es viele auf den Strassen. Die Gesellschaft ist gespalten.
Seit Lukaschenko die Streitkräfte am Samstag in volle Gefechtsbereitschaft versetzt hat, wachsen zudem Befürchtungen, dass er eine Militärdiktatur errichten könnte. Gedroht hat er mehrfach damit, notfalls die Armee einzusetzen, um sich die Macht zu sichern. «In meinem Umfeld gibt es einige Soldaten. Nach allem, was ich höre, werden sie einen Schiessbefehl dieses nicht legitimen Präsidenten aber nicht ausführen», sagt Tatjana.
Der 29 Jahre alte Stepan, der nur Belarussisch spricht und nicht das im Land stark verbreitete Russisch, sagt, dass er keine Angst um seine vier Jahre alte Tochter und um seine Frau haben wolle. «Bei uns verschwinden immer wieder Menschen, einfach so von der Strasse weg. Ich will nicht, dass mir oder meiner Familie das passiert.»
Gesprächsthema auf den Strassen in Minsk ist auch der zunehmende Einfluss der russischen Staatspropaganda. Lukaschenko hat eingeräumt, dass er selbst «russische Journalisten» eingeladen habe, nachdem Korrespondenten seines Staatsfernsehens sich den Protesten angeschlossen hätten. «Ich habe die Russen gebeten: gebt uns zwei, drei Gruppen mit Journalisten für den Fall der Fälle.»
Zwar hat Russland immer wieder gefordert, dass niemand sich einmischen möge in Belarus. Aber die Kremlpropaganda läuft im Land inzwischen auf Hochtouren, stempelt die Proteste als antirussisch ab und behauptet, der Westen mit seinen liberalen Werten und vor allem Homosexuelle und Pädophile wollten sich das Land einverleiben. Unterstützer Lukaschenkos brüllen den Demonstranten diese Parolen des Staatsfernsehens ins Gesicht.
«Wir geben unser Land nicht her!», lautet einer der Sprüche bei den Pro-Lukaschenko-Veranstaltungen in Minsk und anderen Städten. Die Menschen bekommen dort, wie sie teils selbst bestätigen, Geld für die Auftritte. Zwischen 50 und 100 Rubel (17 bis 33 Euro) pro Einsatz gibt es demnach. Während Lukaschenko auf Kosten aller Steuerzahler seine Unterstützer bequem mit Charterbussen zu Kundgebungen fahren lässt, geht die Demokratiebewegung meist zu Fuss.
Auch am Sonntag werden in Minsk wieder früh Metrostationen gesperrt. Staatsferne Internetseiten sind blockiert, damit möglichst wenige die Protest-Aufrufe mitbekommen können. Die Opposition, das machen Tichanowskaja und ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa an diesem Wochenende deutlich, stellt sich auf einen langen Kampf gegen Lukaschenko ein. «Eine Diktator, der in 26 Jahren alle Bereiche des Lebens durchdrungen hat, verschwindet nicht so einfach innerhalb weniger Tage», sagt Kolesnikowa. «Aber wir werden siegen.»