Vielen psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder der bipolaren Störung liegt ein ADHS zu Grunde, erklärt Psychotherapeutin Ursula Davatz.
Heute ist der Tag der psychischen Gesundheit. Doch ab wann ist sie verloren?
Heute ist der Tag der psychischen Gesundheit. Doch ab wann ist sie verloren? - Pixabay
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die meisten psychischen Erkrankungen bilden sich im Teenageralter aus.
  • Oft hatten Betroffene ADHS und wurden nicht korrekt behandelt, so die Psychotherapeutin.
  • Um gesund zu werden, reichen Medikamente nicht: «Das ganze System muss Raum bekommen.»

Wie entstehen psychische Krankheiten? Gibt es Heilung? Und wann ist man denn überhaupt psychisch gesund? Darüber hat Nau mit der Psychiaterin und Familientherapeutin Ursula Davatz gesprochen.

«Gesund ist, wer sein Leben bewältigen kann», sagt Davatz. «Psychisch krank hingegen wird man, wenn man irgendwie stecken bleibt in seinem Leben und nicht weiterkommt.»

Gene und Umwelt

«Die meisten gravierenden psychischen Krankheiten bilden sich im Teenageralter aus», erklärt Psychotherapeutin Davatz. «Das ist eine Zeit des Wandels. Wenn man dann den Einstieg in einen passenden Beruf, die richtige Beziehung oder ähnliches nicht findet, kann das gravierende Folgen haben». Viele Schicksale würden ganz anders verlaufen, hätten die Betroffenen im richtigen Moment die richtige Person getroffen. Jemand, der ihnen Halt gibt – emotional, beruflich, gesellschaftlich.

Psychotherapeutin Dr. med. Ursula Davatz.
Psychotherapeutin Dr. med. Ursula Davatz. - zvg

Doch, betont Davatz, die äusseren Umstände sind nur eine Ursache für eine psychische Erkrankung. Auch die Gene haben ein Wörtchen mitzureden. «Vielen psychischen Krankheiten liegt ein AD(H)S* zu Grunde, also eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. AD(H)S selber ist aber noch keine Krankheit, sondern ein Neurotyp – und zwar ein sehr sensibler. Je nachdem, wie man mit einem solchen Menschen umgeht, kann er sich gesund entwickeln oder wird krank.»

Ist aller Anfang AD(H)S?

Mit «krank» meint Davatz psychische Störungen. Eine Studie belegt ihre These: «Dabei hat man die Genetik von Menschen mit ADHS, schwere Depression, Schizophrenie, Autismus, Bipolarer Störung und Essstörungen untersucht. Heraus kam: Alle stimmten in einem gewissen veränderten Genlocus (dem Ort, an dem ein Gen im Genom angesiedelt ist) überein». Wird nicht richtig mit AD(H)S umgegangen, weil der Neurotyp nicht erkannt wird, könne sich daraus tatsächlich eine Krankheit entwickeln.

Eine Depression zum Beispiel. «Die Depression bezeichne ich als Verliererkrankheit», sagt Davatz und erklärt: «Menschen mit ADHS sind energiegeladen, impulsiv und werden auch rasch aggressiv. Solche mit ADS hingegen richten ihre Impulsivität eher nach innen und denken viel nach. Beide Verhaltensweisen führen dazu, dass sie bei Konflikten oft als Verlierer vom Platz gehen. Entweder, weil sie mit Fäusten gestritten haben (ADHS) oder weil sie gar nicht zu Wort gekommen sind (ADS).»

Wer psychisch krank ist, kann zwar unterstützende Medikamente bekommen. Doch der grösste Teil der Therapie ist schwerste Eigenarbeit.
Wer psychisch krank ist, kann zwar unterstützende Medikamente bekommen. Doch der grösste Teil der Therapie ist schwerste Eigenarbeit. - Pixabay

Wer bei mehr als der Hälfte aller Konflikte das Gefühl habe, zu verlieren, «entwickelt eine Depression.» Denn aus den verlorenen Konflikten lerne der Betroffene: «Ich kann sowieso nichts. Ich bin ein Verlierer.» Nur die Symptome zu kurieren, habe darum keinen Sinn, so Davatz. Sie versucht, ihren Patienten zu helfen, schwierige Situationen auf den Tisch zu bringen und ihnen neue Instrumente in die Hand zu geben, mit der sie Probleme lösen können. Nur das helfe langfristig.

«Das System kränkelt»

Bei der Behandlung einer psychischen Krankheit, das ist Davatz sehr wichtig, gehe es nie nur um den einen Menschen: «Das ganze System – also ihr Umfeld – funktioniert nicht gut. Einer bricht dann zusammen und bekommt die Diagnose. Nur diese Person zu behandeln, genügt nicht. Man muss das System verrücken, nicht nur Symptome behandeln.»

Darum bezieht Davatz wann immer möglich das Umfeld mit in die Therapie ein. Damit steht für sie auch fest: «Psychische Krankheit hat in unserer Gesellschaft nach wie vor eine stigmatisierende Wirkung. Deshalb ist es für psychisch Kranke schwieriger, Hilfe zu holen, als für körperlich Kranke. Für psychische Krankheiten reicht das medizinische Modell nicht aus: Man kann sie nicht wegoperieren. Auch Medikamente helfen nur begrenzt. Sie sind lediglich Symptombekämpfer. Die wirkliche Arbeit müssen Patienten in der Therapie selber leisten. Und diese Arbeit ist hart.»

Filmtipp

«Wir sind hier!» ist ein Film von Andrea Rothenburg über die erwachsenen Kinder von psychisch kranken Eltern. Die Dokumentation will wissen, wie die Kinder ihren Weg gefunden haben – oder nicht.

* Das «H» bei ADHS wird in Klammern gesetzt, weil bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nicht immer eine Hyperaktivität auftritt. Fällt diese weg, spricht man vom ADS.

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