In der Schweiz werden wieder mehr Kinder geboren. Doch, warnt der Experte: Unsere Gesellschaft lässt die jungen Mütter mit ihrer neuen Rolle alleine.
Baby
Eine Handvoll Mensch: Doch dieses Häufchen zur Welt zu bringen, bedeutet für den Körper der Mutter Schwerstarbeit. - Pixabay
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die Geburtenzahlen steigen laut Prognose des Bundesamts für Statistik (BfS) leicht an.
  • Unsere Gesellschaft muss lernen, junge Mütter besser zu unterstützen.
  • Viele sind mit Problemen (Babyblues, Haarausfall, Inkontinenz) nach der Geburt allein.

Seit den Siebzigerjahren nahm sie langsam aber stetig ab: Die Anzahl der Geburten. Jetzt zeigen Hochrechnungen des Bundesamts für Statistik (BfS), dass in der Schweiz zwischen 2015 und 2045 wieder mehr Kinder geboren werden. Drei Hauptgründe sind laut BfS für die eidgenössischen Nachwuchsfreuden verantwortlich: Die Rahmenbedingungen für Familien haben sich verbessert, Frauen mit Migrationshintergrund sind gebärfreudiger und viele, die ihre Familienplanung aufgeschoben haben, bekommen ihre Kinder im untersuchten Zeitraum.

Viele Geburten tun der Gesellschaft gut. Doch was bedeuten sie für die Mütter und Väter? Diese werden von der Gesellschaft kaum auf ihre neue Rolle als Eltern vorbereitet und mit ihren Sorgen aufgefangen, bemängeln Experten.

«Während der Schwangerschaft fokussiert sich alles auf die Geburt. Es gibt zahlreiche Vorbereitungskurse und viele Frauen kommen mit langen Listen zu mir, wie sie sich die Geburt wünschen», erklärt der Gynäkologe Eduard Vlajkovic. Dabei sei die Geburt ganz und gar nicht die letzte Hürde – sie ist erst der Startschuss. «Der grosse Schock folgt nach der Geburt: Egal, was kommt. Man ist schlicht weg nicht darauf vorbereitet», so Vlajkovic.

Fokus nur noch auf dem Baby

Plötzlich liegt der Fokus von Partner, Familie, Freunden – ja, der ganzen Gesellschaft – weniger auf der frischgebackenen Mutter, sondern auf dem Neugeborenen. «Eine Rolle dabei spielt, dass unsere Gesellschaft in Kleinfamilien organisiert ist und nicht in grossen Gemeinschaften. Besonders in asiatischen Kulturen wird die junge Mutter viel stärker von erfahrenen Müttern, Eltern und Verwandten aufgefangen.

Während der Schwangerschaft liegt der Fokus auf der Geburt. Danach auf dem Baby. Die jungen Mütter gehen vergessen.
Während der Schwangerschaft liegt der Fokus auf der Geburt. Danach auf dem Baby. Die jungen Mütter gehen vergessen. - Pixabay

Dadurch entstehen mehr Austauschmöglichkeiten», so Vlajkovic. In der westlichen Welt hingegen sei die Begleitung einer jungen Mutter nach der Geburt viel weniger institutionalisiert. «Es gibt natürlich Anlaufstellen, eine äusserst wichtige sind die Hebammen, die sich auch nach der Geburt weiter um Mutter und Kind kümmern. Sie gleichen das Defizit unserer Gesellschaft aus. Denn die geht davon aus, dass nach der Geburt alles wunderbar ist.»

Die Realität, sagt der Chefarzt der Frauenklinik vom Spital Zollikerberg, sehe oft ganz anders aus. Der Körper ist müde, die Seele ist äusserst fragil und dazu kommen gerne auch noch weitere körperliche Probleme wie zum Beispiel Haarausfall und Inkontinenz. Weil viele Frauen und Paare allerdings dem Ideal der glücklichen Eltern entsprechen möchten, werden die Schattenseiten der ersten Tage kaum je beleuchtet. Gynäkologe Vlajkovic hat es für Nau getan.

Die Mutterliebe braucht Zeit

«Das Mutterbild kommt nicht immer sofort, sich als Mutter zu fühlen, passiert oft nicht augenblicklich -Mutterliebe braucht Zeit», sagt der Gynäkologe. Diese Tatsache verunsichert viele jung Mütter. Wichtig sei vor allem, dass die junge Mutter wisse, wo sie sich Unterstützung holen könne – statt sich in die Kleinfamilie zurück zu ziehen.

Das enge Band zwischen Mutter und Kind setzt sich selten im Augenblick der Geburt ein.
Das enge Band zwischen Mutter und Kind setzt sich selten im Augenblick der Geburt ein. - Pixabay

Der Baby-Blues ist häufig

«Bis zu 80 Prozent der Frauen haben in den ersten 10 Tagen nach der Geburt den Baby Blues», sagt Vlajkovic. Die Hormone stellen sich nochmals um, man muss sich an das Kind gewöhnen, das Stillen macht Probleme, der Körper ist müde und bekommt doch zu wenig Schlaf. Die Seele hadert in der neuen Situation und eigentlich sollte man sich doch freuen. «Es bleibt nichts anderes übrig, als den Baby-blues über sich ergehen zu lassen. Aber er geht mit Sicherheit vorbei», beruhigt der Arzt.

Postnatale Depression

«Die Postnatale oder Wochenbettdepression setzt erst zwei bis drei Wochen nach der Geburt ein. Sie ist viel seltener als der Baby Blues.» Am Anfang stehe oft der Gedanke: «Alle freuen sich über das Kind, nur ich nicht.» Doch diese Gefühle seien absolut in Ordnung. «Wichtig ist, dass die Frau sich dann Hilfe holt, sich entlasten lässt und mit einem Therapeuten spricht.

Schrei-Babies

«Es gibt Kinder, die können ihre Eltern wahnsinnig stressen. Das geht von Verzweiflung bis hin zu Blackouts. Da spricht die Gesellschaft auch viel zu wenig darüber.»

Haarausfall

Die Hormonumstellung kann zu teilweise sehr starkem Haarausfall führen. Dies beginnt meist schon in der Schwangerschaft.

Der Gynäkologe Eduard Vlajkovic ist Co-Leiter der Frauenklinik am Zollikerberg.
Der Gynäkologe Eduard Vlajkovic ist Co-Leiter der Frauenklinik am Zollikerberg. - zvg

Hämorrhoiden und Inkontinenz

«Eine vaginale Geburt und auch schon die Schwangerschaft schädigt den Beckenboden. Je nach Gewebe der Frau hat das unterschiedliche Folgen: Manche können den Urin nicht halten, andere den Stuhl nicht. Viele bekommen durch den Druck bei der Geburt auch Hämorrhoiden.»

Alles ist schlaff

Wie schnell der Bauch sich zurückbildet und die Haut wieder straffer wird, hängt stark vom Gewebe der jungen Mutter ab. Direkt nach der Geburt sieht der Bauch aber oft noch sehr «schwanger» aus.

Pause machen

«Viele Frauen denken, sie müssen sofort nach der Geburt wieder leistungsfähig sein und fit und Teil der Gesellschaft: Das muss und kann man nicht», erklärt der Gynäkologe. Dafür sei der Körper viel zu arg strapaziert worden. Nicht nur bei der Geburt, sondern bereits während der Schwangerschaft. Zudem passiere auch emotional sehr viel. «Das kann man nicht ändern, also muss die Gesellschaft endlich aufhören, es negativ zu bewerten.»

Papa ist schockiert

Die Geburt ist eine archaische Erfahrung für die Frau? Nicht nur. «Die Männer sehen ihre Partnerin in einem Zustand, in dem sie sie nie zuvor gesehen haben. Die Geburt ist ein Leidensweg. Manche Männer haben ein schlechtes Gewissen, weil sie sich verantwortlich fühlen und nicht helfen konnten. Auch darüber wird viel zu selten offen gesprochen.»

Nach der Geburt ihres Kindes, fühlen viele Männer sich überflüssig und ungeliebt.
Nach der Geburt ihres Kindes, fühlen viele Männer sich überflüssig und ungeliebt. - Pixabay

Lust und Liebe auf Eis

Ist das Baby erstmal da, ist bei der Mutter oft die Lust auf Sex weg. «Auch wenn Vagina und Geburtskanal verheilt sind, die Müdigkeit bleibt. Zudem sind viele Frauen hormonell einfach erstmal ganz anders drauf – das hat natürlich einen grossen Einfluss auf die Lust», erklärt der Gynäkologe.  

Die Familie muss sich bilden

«Ich bin ein grosser Befürworter des Vaterschaftsurlaubes», sagt Vlajkovic. «Ein Kind verändert die Beziehung seiner Eltern. Die Partnerschaft wird zur Triade – optimalerweise. Aber wenn der Vater sich zu schnell wieder abkapseln muss, entsteht eine neue Partnerschaft: Zwischen Mutter und Kind. Und der Vater fühlt sich überflüssig und ausgeschlossen.»

Verständnis, Geduld, Zeit und Respekt, das wünscht sich Vlajkovic von der Gesellschaft. Für Mütter, Väter und ihre Kinder.

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