Der Historiker Daniel Marc Segesser zeigt Parallelen zwischen Geschichte und Gegenwart auf und erklärt, warum sich das Dritte Reich dennoch nicht wiederholt.
Ein Demonstrant in Chemnitz (D) zeigt der Polizei den Hitlergruss.
Ein Demonstrant in Chemnitz (D) zeigt der Polizei den Hitlergruss. - Twitter/felixhuesmann
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die Szenen in Chemnitz erinnern an die NSDAP-Märsche der 1930er Jahre.
  • Der Historiker Daniel Marc Segesser zeigt Parallelen und Unterschiede der Zeiten auf.
  • Ein Grund dafür, dass das Dritte Reich sich nicht wiederholt, sind die Social Media.

Dieser Tage marschieren Hunderte durch die Strassen von Chemnitz. «Wir sind das Volk» skandieren sie und auch «Ausländer raus!». Dazu zeigen einige den Hitlergruss, während andere Transparente mit den SVP-Schäfchen in die Höhe recken. Die Polizei schaut weg.

«Ich bin erschrocken über die neo-nazistischen Ausschreitungen in Chemnitz», schrieb Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, Chef der konservativen ÖVP auf Twitter.

Kurz ist nicht der einzige, der bei den radikalen Parolen und erhobenen rechten Armen an das Dritte Reich erinnert wird. Passiert auf Deutschlands Strassen heute das Gleiche, wie in den Dreissigerjahren – als Adolf Hitler nach der Macht griff? «Parallelen lassen sich durchaus ausmachen», sagt der Historiker Daniel Marc Segesser im Gespräch mit Nau.

Die Wirtschaftskrise
«Die Wirtschaftskrise von 1929 und die Finanzkrise von 2008 haben das Wirtschaftssystem geschwächt. Heute sind vor allem die Bundesländer der ehemaligen DDR – wie etwa Mecklenburg-Vorpommern - am Boden», so Segesser.

Das Feindbild
Dazu komme das Feindbild: Um 1930 war das die jüdische Bevölkerung, heute sind es die Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea, von denen einige Gesellschaftsschichten sich bedroht fühlen.

Der untere Mittelstand
«Es waren und sind zu beiden Zeiten die Menschen zwischen Mittelschicht und Arbeiterschaft, die sich bedroht und übergangen fühlen», erklärt Segesser. Darum finden die Proteste aktuell auch nicht in grossen Städten wie Berlin, sondern in mittleren Ballungszentren wie eben Chemnitz statt. Die betroffene Gesellschaftsschicht sei die wichtigste – und vielleicht einzig richtige – Parallele

Adolf Hitler Nazis
Adolf Hilter bei einer Demonstration 1933 in Nürnberg. Tausende salutieren ihm mit dem Hitlergruss. - keystone

Unterschiede überwiegen

Wer nämlich aber genauer hinblickt, erkenne deutlich, dass die restlichen Vergleiche hinken: «Wir erleben jetzt nicht nochmals die Dreissigerjahre», betont der Historiker. «Der Finanzkrise von 2008 ging kein zerstörerischer Weltkrieg voraus. Die heutigen Flüchtlinge sind zudem nicht vergleichbar mit der jüdischen Bevölkerung. Die Juden – selbst die orthodoxen – waren dem «Durchschnittsdeutschen» sehr viel näher. Sie waren integriert und eingebürgert.» Dennoch gelang es den Nationalsozialisten, diese Menschen zum ultimativen Feindbild zu machen.

«Die heutigen Flüchtlinge aus muslimischen Ländern sind unserer Kultur sehr viel ferner.» Dass Unbekanntes Angst auslöst, ist wiederum bekannt. Fremde können zu Feindbildern werden, aber dass es den Flüchtlingen so ergehen könnte, wie den Juden in den 1930er Jahren, bezweifelt Segesser. Dafür fehlt es den fremdenfeindlichen Bewegungen an Organisation und Durchschlagskraft. Kulturelle Unterschiede und Fremdenfeindlichkeit allein reichen nicht aus, damit es zu so unbeschreiblichen Verbrechen wie denjenigen des Nationalsozialismus kommt.

Warum? Wäre das dank der kulturellen Unterschiede nicht gar einfacher?

Drittes Reich dank Social Media unmöglich?

«Damals gab es mit Hitler und Goebbels klare Führungsfiguren, die die gesamte Steuerung übernahmen.» Eine solche Gleichschaltung wie nach 1933 wäre heute in diesem Ausmass nicht mehr möglich. «Obwohl die Filterblasen der Sozialen Medien dazu führen, dass wir immer mehr von jenen Informationen bekommen, die zu unserer Meinung passen, sind die Sozialen Medien doch auch ein Kanal, der Gleichschaltung unwahrscheinlich macht.» Eine Radikalisierung wie in den Dreissigerjahren hält Segesser darum nicht für möglich.

Daniel Marc Segesser ist Privatdozent und Leiter am Historischen Institut der Universität Bern. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Neuesten Geschichte und Zeitgeschichte.
Daniel Marc Segesser ist Privatdozent und Leiter am Historischen Institut der Universität Bern. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Neuesten Geschichte und Zeitgeschichte. - UniBern

«Abgesehen von den Sozialen Medien, fehlt der heutigen deutschen Rechten eine Führerfigur. Die AfD und auch Pegida sind viel zu verzettelt. Sie werden nie die Massen lenken können.» Doch das, betont der Historiker, würde die neue deutsche Rechte auch gar nicht wollen. «Die AfD schielt im Moment nicht nach der Macht. Denn in einer Machtposition könnte sie nicht nur kritisieren, dann müsste sie auch Verantwortung übernehmen. Das will sie nicht.»

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