Mitte-Nationalrat Philipp Kutter kandidiert auch noch für den Ständerat. Dabei ist er nach seinem Unfall noch gar nicht einsatzfähig. Ein Kommentar.
Philipp Kutter Nationalrat Vereidigung
Philipp Kutter bei seiner Vereidigung im Nationalrat an der Sommersession der Eidgenössischen Räte, am Montag, 11. Juni 2018 im Nationalrat in Bern. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Mitte-Nationalrat Philipp Kutter kandidiert definitiv auch für den Ständerat.
  • Er ist seit einem Unfall teilweise gelähmt und noch in der Reha.
  • Sein Entscheid überrascht. Ein Kommentar.
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Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten: Ein Satz, den ich auch schon von einem Bundesrat gehört habe. Leider ist mir entfallen, was die damalige Frage war, aber jedenfalls klang die Antwort einigermassen intelligent.

Mit dem Rollstuhl in den Ständerat

Nun kandidiert Mitte-Nationalrat Philipp Kutter also definitiv auch für den Ständerat. Eine Meldung, die normalerweise im Rauschen des täglichen News-Stroms untergeht. Denn bei Zürcher Ständeratswahlen tragen Mitte-Kandidaturen bislang höchstens zur demokratischen Vorzeige-Vielfalt bei.

Nicht so bei Kutter: Er ist nach einem Ski-Unfall teilweise gelähmt. Zwar macht er Fortschritte, rechnet aber mit einer Rückkehr ins Bundeshaus erst in der Dezember-Session. Die Herbstsession würde er als National- oder Ständerat also verpassen. Die nicht-dumme Frage wäre also: Macht das denn Sinn?

Philipp Kutter Wahlen 2023
Philipp Kutter kandidiert bei den Wahlen 2023 für die kleine Parlamentskammer: «Obwohl das ja Ständerat heisst, kann man das Amt auch im Sitzen gut ausüben», erklärt er lächelnd. - ZüriToday / TeleZüri

Dumme Antworten darauf gäbe es zahlreiche, deshalb dürfen Sie sich gerne eine selbst aussuchen. Für eine einigermassen intelligente Antwort müsste man hingegen eine ganze Reihe von Faktoren berücksichtigen. Womit man Gefahr läuft, wie ein Bundesrat zu tönen, aber so einmal im Jahr hält man das ja noch aus.

Es menschelt halt

Ob es Philipp Kutters allgemeinem Wohlbefinden zuträglich ist, sich auch noch mit einer Ständeratskandidatur zu belasten, wissen wir nicht. Ja, es wird aufwändiger, aber gleichzeitig gibt so ein Programm auch Perspektive und Inhalt. Er wird an Grenzen stossen und Lösungen finden müssen, aber das wäre früher oder später wohl so oder so der Fall gewesen.

Philipp Kutter Pfister Bregy
Parteipräsident Gerhard Pfister und Fraktionspräsident Philipp Matthias Bregy unterstützen ihren Nationalratskollegen via Twitter. - Screenshot Twitter

Ob seine Partei uneingeschränkt Freude an Kutters Hartnäckigkeit hat, wissen wir ebenfalls nicht. Offiziell unterstützen Mitte-Politiker bis in die Parteiführung ihren Kollegen mit aufmunternden Worten. Das sollten sie auch, denn schliesslich geht es hier zuerst mal um einen Menschen und erst in zweiter Linie um einen Politiker. Zugegeben, auch Politiker sind Menschen, insofern bietet sich hier eine gute Gelegenheit, sie daran zu erinnern.

Absenzen: häufiger als gedacht

Ein anderer Aspekt ist die Seite der Wählerschaft: Soll man jemandem die Stimme geben, der mindestens eine ganze Session verpasst? Wird Kutter umgekehrt in den Genuss eines – unbewussten – Mitleids-Bonus kommen? Oder eines Behinderten-Bonus, weil das Parlament doch divers und ein Abbild der Gesellschaft sein soll?

Berechtigte Punkte, nur haben sie eigentlich wenig mit Rollstuhlfahrer Philipp Kutter zu tun. Der aktuell einzige Rollstuhlfahrer im Nationalrat, Christian Lohr (Mitte), verpasst nicht mehr Abstimmungen als seine Kollegen. Der damalige FDP-Nationalrat Marc Suter war schon bei seiner ersten Wahl querschnittsgelähmt. Er galt als Absenzenkönig.

Christian Lohr
Christian Lohr spricht im Nationalrat. (Archivbild) - Keystone

Mindestens zwei weitere Absenzen-Spezis wurden aber gar in den Bundesrat gewählt. Wahrscheinlich als Strafe, denn weder von Johann Schneider-Ammann noch von Christoph Blocher ist überliefert, dass sie Bundesratssitzungen verpasst hätten. Ein anderer schaffte es dagegen «nur» zum bestgewählten Nationalrat der Schweiz. Das Stimmvolk scheint Schwänzerei wenig zu beeindrucken.

Werden Sie Philipp Kutter in den Ständerat wählen?

Wer Kutter wählt, um ein Exempel zu statuieren: Nur zu, aber statuieren Sie dann bitte auch konsequent. Es wurden bisher auch eher wenige alleinerziehende Väter, Facility Manager, Blinde, Auslandschweizerinnen, Pflegefachpersonen und Rothaarige gewählt. Oder könnte es sein, dass man hier mit ungleichen Ellen misst?

Hauptsache wählen

Fragt man bei CEOs, Spitzensportlern, Bäuerinnen, Linienpiloten oder Zweimetermenschen auch, ob es angesichts ihrer Lebenssituation sinnvoll sei, zu kandidieren? Immerhin könnten sie Abstimmungen verpassen oder nur dank Pilotenbonus gewählt werden. Oder man müsste an der Ratssaalmöblierung teure Sonderanpassungen vornehmen.

Warum Herr Kutter und ein paar Tausend weiterer Personen unbedingt gewählt werden wollen, ist deren Problem. Unser Problem ist, wen wir wählen – und warum. Wählen wir Kandidat X, weil wir seinen Mut bewundern und Kandidatin Y, weil es mehr junge Mütter im Parlament braucht? Oder stört uns bei X die Frisur und bei Y der Migrationshintergrund?

Zürcih
Wahlplakate in Zürich. - keystone

Sollte die Frage nicht vielmehr sein: Hat dieser Mensch ungefähr die gleichen Ansichten wie ich? Setzt er oder sie sich im Parlament dafür ein und kann (trotz zig Absenzen) Mehrheiten bilden? Wenn ja, verzeiht man gerne auch mal ein durchschnittliches Wahlplakat mit freundlich eingefrorenem Lächeln.

Macht es nun Sinn, dass Philipp Kutter für den Ständerat kandidiert? Keine Ahnung. Aber vielleicht sollte man diese Frage öfter stellen. Macht es Sinn, dass TikTok-Süchtige, Unternehmerinnen, Dunkelhaarige, Alphornbläser, Gin-Brenner und Datensicherheitspezialistinnen kandidieren? Und dann die Frage einfach mit einem «Ja» beantworten.

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