Zufällig zueinander: «Lieber woanders» von Marion Brasch
Sie stammt aus einer Künstlerfamilie. Gross sind die Fussstapfen der Schriftsteller-Brüder. Marion Brasch veröffentlicht ihren vierten Roman - und schreibt von Schuld und Vergebung.

Das Wichtigste in Kürze
- Sie hat einmal gesagt, zur Schriftstellerei sei sie über die Geschichte ihrer Familie gekommen.
Und das ist sogar doppeldeutig.
Marion Brasch tritt einerseits in die grossen Fussstapfen ihrer Autoren-Brüder, andererseits macht sie gerade selbst mit einer Autobiografie über ihre Geschwister 2012 den ersten Schritt in die Literatur. Jüngst ist ihr neuer Roman «Lieber woanders» erschienen.
«Die Buddenbrooks des Ostens» nannte die «FAZ» einmal Familie Brasch. In ihrem hochgelobten Debüt «Ab jetzt ist Ruhe» erzählt die jüngste Tochter Marion von ihrem Vater Horst, einem Kulturfunktionär in der SED-Spitze, und von den grossen Brüdern, allesamt Aufmucker: Thomas, der begnadete Schriftsteller («Vor den Vätern sterben die Söhne») und Filmemacher, der der Kultur-Schublade namens DDR 1976 den Rücken kehrt; Klaus, der sich als Schauspieler («Solo Sunny») einen Namen macht; und der Hörspiel-Produzent Peter, der später als Autor («Schön hausen») arbeitet. Alle drei sterben vor ihrer Zeit. Marion ist noch da. Seit den Wendejahren moderiert sie im Radio. «Lieber woanders» ist mittlerweile das vierte Buch der 1961 geborenen Berlinerin.
Darin beschreibt sie 24 Stunden, in denen sich die Ich-Erzähler Toni und Alex langsam aufeinander zubewegen. Die Gelegenheitskellnerin und Buchillustratorin Toni lebt in einem Wohnwagen auf dem Dorf und malt sich in Gedanken ein schöneres Leben am anderen Ende der Welt aus. Sie gibt sich die Schuld an einem Unfall, bei dem ihr kleiner Bruder ums Leben kam. Der Familienvater Alex arbeitet als Roadie einer Rockband und trifft sich heimlich mit seiner Geliebten. «An zwei Orten gleichzeitig sein, das wäre auch gut», träumt er einmal.
Unabhängig voneinander machen sie sich auf den Weg in die Stadt: Der Mann, weil seine Tochter im Krankenhaus liegt, die junge Frau, weil sie ihren Verleger und den lange schon entfremdeten Vater treffen will. Beide tragen eine Last auf ihren Herzen. «Die beiden wissen ja nicht, dass sie sich begegnen werden. Und sie haben auch keine Ahnung, dass es nicht das erste Mal sein wird», heisst es gleich zu Beginn. Das Wissen des Lesers und das Nichtwissen der Figuren sind das treibende Moment des Romans.
Im Wechsel sprechen die Hauptpersonen, mehr und mehr festigt sich ihre Kontur. Brasch hat nicht erst den einen und dann den anderen Teil des Romans geschrieben, sondern chronologisch gearbeitet. «Ich wollte mit den beiden immer auf Augenhöhe bleiben und trotzdem der Chef sein, wenn ich beginne, mich zu langweilen», sagt die Autorin. Und tatsächlich: Sie hält die Fäden in der Hand. Als sich beide schon in der Bahn hätten treffen können, lässt Brasch etwa ihre Toni doch noch eine Runde auf der Suche nach einem Telefon drehen.
In «Lieber woanders» geht es um Schuld und Erlösung, Vergebung und Geständnis. Brasch arbeitet an ihrem zentralen Konflikt mit einer Vielzahl an Metaphern. Darüber setzt sie einen allwissenden Erzähler, der vom Ende her denkt und zum Teil zu den Lesern spricht. So gibt Brasch der Schwere ihrer Geschichte bezaubernde Kontrapunkte. Der Roman wird an diesen Stellen feenhaft.
Das Wort «Schuld» hängt wie schwarze Wolken über der Szenerie. Die Leichtigkeit aus Braschs Vorgänger-Romanen «Wunderlich fährt nach Norden» und «Die irrtümlichen Abenteuer des Herrn Godot» geht dabei etwas verloren. Und dennoch wehrt sie sich gegen eine allzu trübe Stimmung. «Lieber woanders» ist ein feines Buch über Zufälle und Gedankenspiele - und über das wunderbare Prinzip der Ziellosigkeit.
- Marion Brasch: Lieber woanders, Verlag S. Fischer, Frankfurt, 160 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-10-397413-3.