Der neue britische Premierminister Boris Johnson ist in deutschen Augen ein ziemlich schräger Typ. Was daran liegen könnte, dass Politiker in Grossbritannien oft die gleiche Ausbildung geniessen wie Komiker.
Schrullig: Boris Johnson 2018 in Lobndon: Foto: Victoria Jones
Schrullig: Boris Johnson 2018 in Lobndon: Foto: Victoria Jones - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Wie müsste man sich den neuen britischen Premierminister Boris Johnson oder den Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg übertragen auf deutsche Verhältnisse vorstellen?

Johnson wäre vielleicht noch am ehesten als Mischung aus dem blondschopfigen Komiker Guido Cantz («Verstehen Sie Spass?») und dem keine Kontroverse scheuenden Kolumnisten Jan Fleischhauer denkbar. Und der hochgewachsene, für sein versnobtes Upper-Class-Geschnösel bekannte Rees-Mogg? Er erinnert in Habitus und Kleidung entfernt an Sky du Mont in Bully Herbigs Filmkomödie «Schuh des Manitu». 

Gewiss, die Vergleiche hinken, sie treffen nicht wirklich, aber sie machen deutlich: Exzentriker wie Johnson und Rees-Mogg sprengen den Rahmen des im politischen Berlin Vorstellbaren. Wohingegen man es in Grossbritannien offenbar nicht trotz, sondern gerade dank mancher Schrulle bis ganz nach oben schaffen kann. Warum ist das so?

Karina Urbach, Historikerin an der US-Eliteuni Princeton, fragt zurück: «Warum erwarten wir in Deutschland, dass Politiker anderer Nationen sich genauso wie deutsche Politiker benehmen? Das zeigt doch eine gewisse Provinzialität unserseits. Churchill war auch ein berühmter Exzentriker.» Er bellte abends beim Nach-Hause-Kommen «Wau-wau», was seine Frau Clementine mit einem niedlichen «Miau, miau» beantwortete.

«In der britischen Gesellschaft gibt es eine viel grössere Toleranz für das Exzentrische», bestätigt Andrew James Johnston, Professor für englische Literatur an der Freien Universität Berlin. «Da gab es den Lord, der beim Abendessen immer eine Blaskapelle um seinen Tisch marschieren liess, oder den britischen Militärkommandanten in Berlin, der seinen Hund an der Tafel mit Platz nehmen liess.»

Exzentrizität gelte auf der Insel als eine Form von Charakterstärke. «Jacob Rees-Mogg wird ja zum Beispiel oft als "Minister für das 18. Jahrhundert" bezeichnet», erläutert Johnston. «Er lebt in vielerlei Hinsicht in einer anderen Epoche, deren Werte er sich zu eigen gemacht zu haben glaubt.» In dieser Fantasiewelt bewege er sich aber so überzeugend, dass er viele Menschen fasziniere.

Diese Fähigkeit zur Selbstinszenierung werde der englischen Oberschicht schon in Kindheit und Jugend antrainiert, sagt Johnston. «Sowohl in Eton als auch in Oxford kommt es ganz massiv darauf an, ein Sonderbewusstsein zu kultivieren. Denken Sie an diese eigentümlichen Fräcke und Zylinder der Eton-Schüler, die völlig aus der Zeit gefallen sind. In Debattierclubs werden diese Eigenheiten zusätzlich gepflegt. Es geht dort gar nicht mal unbedingt um das bessere Argument, sondern um "wit" - um intellektuelle Brillanz, Schlagfertigkeit, Witz, um die bessere, pointiert ironische Formulierung.» Der allerschlechteste englische Redner stecke noch «ein ganzes Kollegium deutscher Stadträte» in die Tasche, konstatierte schon im 19. Jahrhundert der preussische Schriftsteller Theodor Fontane.

In Deutschland unvorstellbar: Spitzenpolitiker und Spitzenkomiker haben oft die gleiche Ausbildung genossen. «Institutionen wie die Universität Cambridge sind auch eine Pflanzstätte der englischen Komiker- und Schauspieleravantgarde - man denke an Monty Python.» Das heisst für Johnston: «Es ist eine sich durch die ganze Gesellschaft ziehende Kultur des extravagant-Schauspielerischen, des Inszenatorischen.» Selbst die oft als graue Maus beschriebene bisherige Premierministerin Theresa May habe sich mit ihren ausgefallenen Schuhen einen Hauch von Exzentrizität gegeben.

Begründet wurde die Vorliebe für aparte Überspanntheiten einst vom englischen Hochadel. Als Miterfinder des «Spleens» - der blaublütigen Marotte - gilt Baron Rokeby (1712-1800), der während eines Kuraufenthalts in Aachen beschloss, nunmehr als Amphibie durchs Leben zu gehen. Von Stund an verbrachte er den Grossteil des Tages im Wasser. Sein Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe machte die Beobachtung, dass den Engländer eine gewisse «Eigenwüchsigkeit» auszeichne.

Muss eine sachorientierte deutsche Politikerin wie Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Briten da nicht geradezu abschreckend fade wirken? «Nein», meint Johnston. «Angela Merkel geniesst in Grossbritannien extrem hohes Ansehen, gerade weil sie einen ganz anderen Politikstil verkörpert. Einen Stil der Gelassenheit, der als Gegenmodell zur Inszenierung sehr goutiert wird.» Denn eines darf man bei alldem wohl nicht vergessen: Auch in ihrer Heimat sind Johnson und Rees-Mogg hoch umstritten.

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