Hans Magnus Enzensberger beschäftigt sich mit den «Kleinigkeiten des Lebens». Jetzt hat er eine «Experten-Revue» über Erfinder, Tüftler und Sammler vorgelegt.
Hans Magnus Enzensberger hat eine «Experten-Revue» über Erfinder, Tüftler und Sammler vorgelegt. Foto: Nicolas Armer
Hans Magnus Enzensberger hat eine «Experten-Revue» über Erfinder, Tüftler und Sammler vorgelegt. Foto: Nicolas Armer - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Hans Magnus Enzensberger erinnert sich angesichts seines bevorstehenden 90.

Geburtstages im Herbst daran, «dass für unsere Spezies eine immer weiter zunehmende Lebenserwartung nicht vorgesehen ist».

Der Schriftsteller zitiert damit in seiner jüngsten «Experten-Revue in 89 Nummern» (Suhrkamp) den Schweizer Immunologen und Medizin-Nobelpreisträger Rolf Martin Zinkernagel. Die wichtigste evolutionäre Funktion des Menschen sei nunmal die Fortpflanzung, die sich gewöhnlich im Alter von 25 Jahren erfüllt habe. «Durch die Wissenschaft haben wir unser Leben verlängert und damit eine Heerschar neuer Krankheiten hervorgerufen», zitiert Enzensberger den Nobelpreisträger.

Der Schriftsteller, Lyriker und zeitweilige «Kursbuch»-Herausgeber, der einst zu den «zornigen jungen Männern» der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur vor allem in der legendären «Gruppe 47» mit Günter Grass, Peter Handke und Ingeborg Bachmann gehörte, nutzt seine längere Lebenserwartung dazu, sich Gedanken über die vergangene Zeit und die Gegenwart mit all ihren Absonderlichkeiten zu machen. Jüngstes Beispiel ist seine Betrachtung über die verschiedensten kuriosen wie seriösen Experten und Spezialisten in 89 Beispielen (so viel wie sein eigenes Leben an Jahren bisher zählt). Mal augenzwinkernd und eher banal und mal auch etwas tiefgründiger, wenn es um die Ursprünge der Rechenmaschinen und Computer geht, zu deren Urvätern er den 1662 gestorbenen französischen Philosophen und Mathematiker Pascal zählt, der davon überzeugt war, dass Rechenmaschinen «dem Denken näher kommen als alles, was Tiere vollbringen», auch wenn sie keinen Willen haben.

Eine längere Passage widmet Enzensberger auch dem amerikanischen Erfinder, Schriftsteller und Geschäftsmann Raymond Kurzweil, den er den «weltweit führenden Fachmann für das ewige Überleben» nennt. Eine seiner Visionen sei das Zusammenwachsen von Maschinen und Menschen, Computer würden unsere Bedürfnisse besser kennen als wir selbst. Kurzweil prophezeie «die direkte Verbindung unserer Gehirne mit der Künstlichen Intelligenz, die grösstenteils in der Cloud angesiedelt sein wird, also in einer Datenwolke». Wie aktuell das Thema ist, zeigt das gerade erschienene neue Buch von Ian McEwan «Maschinen wie ich».

Bei Enzensberger erfährt der Leser auch, dass der Erfinder der Mengenlehre, Georg Ferdinand Philip Cantor, «leider kein glücklicher Mensch» gewesen sei, der als grosser Forscher «aus dem Labyrinth seiner eigenen Erfindungen nie wieder herausgefunden» habe.

Aber es geht bei Enzensberger auch weit profaner zu - getreu dem Goethe-Motto «Greift nur hinein ins volle Menschenleben». So reicht seine Expertensuche von Bierdeckelsammlern bis zur 8000 Jahre alten Geschichte der Mausefalle, ja, es gibt sogar eine «Kulturgeschichte der Mausefalle» und auch Mausefallen-Museen im Harz oder in der Eifel.

Als einen besonderen Experten auf dem Gebiet der Soziologie und Gesellschaftsforschung stellt uns Enzensberger den britischen Publizisten und frühen Sozialforscher Henry Mayhew vor, ein viktorianischer Gentleman, der mit seiner vierbändigen Slumreportage und Untersuchung des Londoner «Lumpenproletariats» 1851 bis 1861, die zuerst als kleine, billige Hefte gedruckt und auf den Strassen Londons verkauft wurde, Aufsehen erregte. Enzensberger spricht von einem «Klassiker der reflexiven Ethnologie». Mayhew war Mitbegründer der später legendären satirischen Zeitschrift «Punch» und schlug sich als Journalist durch. Das Wort «Lügenpresse» gab es damals vermutlich nicht, aber so oder ähnlich dürften auch manche Vorwürfe geklungen haben, die in Veröffentlichungen über das «Lumpenproletariat» gemacht wurden. Mayhew wehrte sich auch gegen Vorwürfe, ein Spitzel der Regierung oder der Polizei zu sein: «Ich bin bloss ein Schriftsteller, der wünscht, dass die Reichen mehr über die Armen erfahren.» Wenn sie es denn überhaupt wissen wollen.

Und damit ist Enzensberger, bei ihm natürlich eine Selbstverständlichkeit, wieder im Hier und Heute angekommen und somit auch im aktuellen Parteienstreit über eine bessere und gerechtere Gesellschaft. Ein heute fast 90-jähriger ehemaliger «junger Wilder» der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft dürfte das spannend finden und dadurch auch wieder ermuntert werden, sich weiter einzumischen - und neue Bücher zu schreiben, um den Lesern weiterhin auf die Spur zu helfen, was für ein «Experte» denn Enzensberger selbst ist.

Vielleicht ist er auch ganz einfach «nur» ein Experte als «Überlebenskünstler», wie er eines seiner letzten Bücher nannte, in denen er auch auf seine Kindheits- und Jugendjahre zurückblickte («Eine Handvoll Anekdoten»). Und als solcher ist der alte Mann vielleicht auch weiser Ratgeber für die aktuellen Probleme Europas, denen er sich schon 1987 mit seinem Reise-Essay-Band «Ach Europa» widmete. Der «Spiegel» stellte dazu in seiner Rezension die Frage: «Gehört also einem rabiaten Regionalismus und einem grünen Fundamentalismus die Zukunft?» Das war 1987.

Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern. Suhrkamp Verlag, Berlin, 336 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-518-42855-9

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