Das langsamste Buch des Jahres
Ein Roman ohne einen einzigen Punkt, in dem fast nichts passiert? Auf Jon Fosses Lese-Meditation muss man sich einlassen. Wer diese Geduldsprobe besteht, kann Erstaunliches erleben.

Das Wichtigste in Kürze
- Auf der Frankfurter Buchmesse bekam der norwegische Autor Jon Fosse hohen Besuch.
Norwegens Kronprinz Haakon besuchte die Buch-Präsensation von Fosses neuem Werk, hörte aufmerksam zu, schüttelte dem Autor danach die Hand und wechselte ein paar Worte mit dem Schriftsteller, während die Kameras klickten.
Das Buch ist eigentlich eine Serie. «Heptalogie» heisst es, die Teile eins und zwei tragen in der deutschen Ausgabe den Titel «Der andere Name». Sieben Teile soll das Buch insgesamt haben - insgesamt 1500 Seiten.
Fosse ist in Deutschland vor allem als Theater-Autor bekannt. Nach 25 Jahren, in denen er fast nur Stücke geschrieben habe, habe er beschlossen, von nun an «langsame Prosa» zu schreiben, verriet Fosse auf der Buchmesse. Im Theater müsse man «zum Punkt kommen» - in seiner «Heptalogie» gibt es keine Punkte. Keinen einzigen. In einem endlosen Strom fliesst der Text dahin, ab und zu teilen ein «und» oder selten ein Komma den steten Fluss, ohne ihn zu unterbrechen.
«Der andere Name» erzählt von zwei Malern, die den gleichen Namen haben, Asle, aber unterschiedliche Leben führen. Der eine lebt in einem Dorf an einem Fjord, er ist Witwer, gläubig, trinkt nicht, sein einziger Freund ist der wortkarge Nachbar Åsleik, ein Fischer. Der andere Asle lebt in einer Stadt namens Bjørgvin an der Südwestküste Norwegens, er ist mehrfach geschieden, hat keinen Kontakt zu seinen Kindern, aber einen Hund und ist dabei, sich zu Tode zu trinken.
Vielleicht sind sie ein und dieselbe Person, vielleicht auch nicht, denn sie begegnen sich im Laufe des Buchs. Der Land-Asle fährt in die Stadt und findet den anderen Asle bewusstlos und halb eingeschneit auf der Strasse. Er begleitet ihn erst in die Kneipe, und später, als der flehentlich erbetene Alkohol nicht hilft, ins Krankenhaus. Damit ist schon die Hälfte der Handlung erzählt. Das ganze 480 Seiten dicke Buch beschreibt ohnehin nur zwei Tage.
«Es passiert fast nicht», sagte Fosses deutscher Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel auf der Buchmesse, «aber das sehr tief.» Der Zauber, den das Buch entfaltet, liegt in der Entschleunigung. Wie eine Mediation, vielleicht sogar wie ein Gebet, kreist der Text in permanenten Schleifen um immer die gleichen Gedanken, Gefühle, Befindlichkeiten, Bedürfnisse. Der Leser sitzt so tief im Hirn des Ich-Erzählers wie nur irgendwie denkbar.
Nicht nur das Tempo ist eine Herausforderung, auch die Realitätsebenen verschieben sich permanent. Am Strassenrand parkend beobachtet Asle ein junges Paar auf einem Spielplatz - er selbst und seine gestorbene Frau in einem früheren Leben? Eine Frau namens Guro taucht mehrfach als Randfigur auf, ohne dass klar wird, ob es sich um die gleiche Person handelt. Und zu welchem der beiden Asles gehören die eingewebten Kindheitserinnerungen?
Eine geheimnisvolle, magische Stimmung liegt über diesem Buch. Die langsam fliessende Zeit führt paradoxerweise zu einer permanenten Anspannung. Besonders intensiv ist eine Passage, in der der Kinder-Asle mit seiner Schwester zur Landstrasse, zum Nachbarhaus, zum Meer geht. Ständig warnt die Schwester: Der Mann mit der Glatze tut Kindern etwas an, im Meer kann man ertrinken, doch dauernd zieht der Bruder sie weiter.
An anderer Stelle schaut man dem Maler beim Nicht-Einschlafen-Können zu: Die Gedanken kreisen um den Freund, seinen Hund, die Frau, die ihm den Weg wies, das halb fertige Bild auf der Staffelei, lateinische Gebete, den Sinn des Lebens und der Kunst und das Frühstück am nächsten Morgen. Langsam, über zig Seiten hinweg, werden aus den Gedanken-Schleifen Zacken, Bruchstücke. Asle gleitet in den Schlaf, den Leser fest umklammert.
Das Buch spielt in Norwegen; die Landschaft, das Wetter, die Schweigsamkeit der Menschen sind wichtig für die Stimmung des Romans. Geschrieben hat Fosse das Buch aber in Österreich, wie er auf der Buchmesse verriet, an der Donau, vorwiegend nachts. «In Norwegen hätte ich es nicht schreiben können. Ich brauchte den Abstand.»
Wer die Kraft hat, sich nach einem hektischen Alltag auf diesen Abstand zur realen Welt, auf diese Entschleunigung einzulassen, kann im «Anderen Namen» Grosses erleben. Für andere dürfte das Buch eine Qual, bestenfalls ein Rätsel bleiben.
- Jon Fosse: Der andere Name, Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 30 Euro, ISBN: 978-3498021412.