Gedichte von Gewicht zeigen Endo Anconda als Lyriker
Endo Anaconda zeigt in seinem postumen Gedichtband «Im Gespinst in dem ich wohne» seine Leidenschaft als Lyriker.

Endo Anaconda war auch ein leidenschaftlicher Lyriker. Der Band «Im Gespinst in dem ich wohne» mit Gedichten aus dem Nachlass demonstriert es kraftvoll – und er zeigt eine neue Facette von ihm, der vor allem als Stimme von Stiller Has bekannt ist.
Lieder von Stiller Has wie «Aare», «Dr Wouf esch los» oder «Moudi» gehören längst zum kollektiven Liedgut der Schweiz. Die Stimme von Endo Anaconda (1955-2022), subtil begleitet von Balts Nill, hat die Musikszene ab den 1990er-Jahren geprägt. Die berndeutschen Texte waren das Markenzeichen von Stiller Has.
Anaconda, eigentlich Andreas Flückiger, schrieb aber auch Kolumnen und Lyrik in Hochsprache. Auf letztere wollte er sich nach der Abschiedstournee mit Stiller Has konzentrieren. Ein Gedichtband war bereits geplant, doch sein Tod am 1. Februar 2022 warf diese Pläne über den Haufen. Zurück blieb ein chaotischer Fundus von Texten sowie die Erinnerung an eine eindrückliche Lesung.
Unermüdliche Arbeit und poetische Leidenschaft
Anacondas Tochter Nina Rieben, der Autor Martin Bieri und der Verleger Matthias Burki haben diesen Nachlass durchforstet, um das Buchvorhaben postum zu realisieren. Sie haben die von Anaconda vorgesehene Auswahl zu einer Ausgabe erweitert, die vortrefflich Einblick in ein lyrisches Werk gibt, dessen Unrast sogar in gedruckter Form noch spürbar bleibt.
«Es hört nie auf», wird Anaconda im Vorwort zitiert. Er meinte damit seine unermüdliche Arbeit an Texten, die nie fertig werden wollten, weil immer etwas daran zu ändern, verbessern sei. Vielleicht liegt darin der Grund für die poetische Kraft und ungestüme Leidenschaft, die der Band «Im Gespinst in dem ich wohne» schliesslich zum Ausdruck bringt.
Dabei zeigt sich Anaconda hier nicht als vollendeter Stilist. Er setzt nicht feine ziselierte Zeilen behutsam aneinander. Seine Lyrik kommt vielmehr wie ein sprachliches Gewitter daher. Er entwarf rohe Metaphern, setzte überraschend Worte zueinander und liess sich beim Schreiben spontan von Empfindungen tragen. Manchmal einsilbig, manchmal in langen Zeilen ist es dieses wilde Ungestüm, das seine Gedichte vorwärts treibt.
Themen von Welt, Liebe und Ich im Zentrum
Reim und Rhythmus bilden ihren Kern, wobei er Reime nicht sucht, sondern sich aus dem Moment heraus von ihnen überraschen lässt. Mal stehen sie am Ende der Zeilen, mal bilden sie Binnenreime (wenn Reimwörter innerhalb eines Verses stehen und nicht am Ende) oder Alliterationen (mehrere Wörter, die mit dem selben Buchstaben oder Laut beginnen). Derart verleihen sie den Gedichten einen sehr eigenen, beweglichen Rhythmus. Beispielsweise: «Wortgeschleppe – vages Lamento / Frühergüsse / guter Ton – Gottsackramento / und Liebe Grüsse».
Es geht dabei immer ums Ganze: die Welt, die Liebe, die Leidenschaft, das Ich. Das überrascht weniger als die Eindringlichkeit, mit der Anaconda diesem ganzen lyrisch beizukommen versucht: «Ich feile / ungeschliffene Worte / Silben fallen / mir aus dem Mund / ertaste Narben / alte Schnitte».
Solche Zeilen täuschen nicht darüber hinweg, dass er, wie erwähnt, mit seinen Gedichten gerungen und intensiv daran gefeilt hat. Die im Band abgedruckten handschriftlichen Beispiele demonstrieren die Unruhe, mit der er unentwegt nach dem richtigen Ton, nach der adäquaten Übersetzung seiner Temperamente suchte.
Gedichte als Spoken-Word-Performance
Diese Leidenschaft und Kraft, die Anacondas Gedichte zum Klingen bringen, hallen auf der Tonaufnahme wieder, die dem Gedichtband beigefügt ist. Anlässlich des Spoken-Word-Festival woerdz trug Anaconda am 22. Oktober 2020 seine Gedichte in Begleitung des Musikers Boris Klečić vor: halb gelesen, halb gesungen. Die denkwürdige Performance macht die Kraft und Poesie dieser Gedichte auch hörbar.
«Das Gespinst in dem ich wohne» bewahrt die Erinnerung an diesen leidenschaftlichen Sänger und Dichter. Im Nachwort findet Anacondas Weggefährte Balts Nill für dessen doppeltes Talent das richtige Wort: «Lieder sind liederlich, nur ein Gedicht hat Gewicht.»*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.